Welt in Aufruhr – Handlungsmöglichkeiten für die Schweiz

Peter Maurer, Präsident des «Basel Institute on Governance» und ehemaliger Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK, hat den folgenden Beitrag als Referat am 11. Mai 2023 an einer aussenpolitischen Aula der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik an der Universität Bern vorgetragen.


Internationale Beziehungen heute


Beim Blick auf die internationalen Beziehungen seit Anfang des Jahrtausends gibt es Begriffe, die auffällig oft auftauchen.

  • Man spricht von Unsicherheit, Volatilität und Unvorhersehbarkeit und denkt dann etwa an Ereignisse wie 9/11, den arabischen Frühling, an Ausbruch und Verstetigung regionaler Konflikte in Syrien, Afghanistan oder der Ukraine, Äthiopien oder Sudan, an das Wechselbad von kooperativen und konfliktuellen Beziehungen zwischen Staaten. Während die Welt im Kalten Krieg unsicher, aber relativ stabil war, ist sie heute unsicher und instabil.
  • Man spricht auch oft von der Fragmentierung politischer Kräfte und beschreibt intern und international die Schwierigkeit, unter der Vielzahl von Staaten, Gruppen und Organisationen Mehrheiten zu finden,von der Vielzahl bewaffneter Gruppierungen in Konflikten, von schwierigen Mehrheitsfindungen nach Wahlen in weit entwickelten Gesellschaften.
  • Komplexität ist ein anderes, wiederkehrendes Wort, um die Vielschichtigkeit von ökonomischen, ökologischen, finanziellen und gesellschaftlichen Problemen zu beschreiben.
  • Und wir konstatieren Misstrauen, wohin wir auch blicken, denn eigentlich glaubt niemand niemandem, was angesichts der Verwirrung, was nun wahr oder falsch, real oder fiktiv ist, auch nicht sonderlich verwundert.


Wer die weiteren Perspektiven im Auge behält, wird eine ganze Serie grosser globaler Herausforderungen erwähnen, die gemeinsam angegangen werden müssten:

  • Den Klimawandel und nachhaltigere wirtschaftliche, soziale und ökologische Systeme.
  • Armut, Ungleichheit und Gewalt und die ungeahnt negativen Dynamiken zwischen diesen einzudämmen.
  • Transparente und verantwortliche Gouvernanzen aufzubauen.
  • Die digitale Transformation in positivem Sinne zu nutzen, um inklusivere Gesellschaften zu ermöglichen.


Und wer Herausforderungen erwähnt, wird auch bald bei der Geopolitik landen und feststellen: «geopolitics is back» – als ob sie vorübergehend in den Ferien gewesen wäre.

  • Das Machtgefüge und die Beziehungen zwischen den Grossmächten in vielen Regionen der Welt sind schwierig; der Transformationsprozess von einem mono- zu einem bi- und multipolaren System ist in vollem Gange, während sich seit Jahrzehnten geopolitische Schwerpunkte nach Osten und Süden verlagern.
  • Die Gestaltung internationaler Beziehungen sieht nicht nur mehr Staaten selbstbewusst auftreten, sondern auch neue und mächtige Akteure und Allianzen in Kombinationen von Staaten, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und sozialen Medien. Diese sind bisweilen noch national konstituiert, meist aber inter- und transnational aufgestellt und nehmen allesamt an aussenpolitischen und transnationalen Entscheidungsprozessen teil.
  • Das Verhältnis zwischen globalen, regionalen, nationalen und lokalen Dynamiken verschiebt sich, auch wenn oft schwer zu erkennen ist, in welche Richtung.
  • Es gibt daher keine stabile internationale Ordnung.
  • Traditionelle Institutionen reflektieren oft nicht die realen Machtverhältnisse, was den Multilateralismus schwächt und ihm oft nur zufällige Aktionsfelder überlässt – internationale Organisationen werden gewissermassen als «Putz-Truppe» eingesetzt, wenn die Unordnung mal besonders gross ist.
  • Der Cursor zwischen Kooperation und Konflikt bewegt sich in Richtung des zweiten und der Wettbewerb zwischen Staaten weitet sich aus: von der Herrschaft über Bevölkerungen, Land, Wasser und den Luftraum, zur Kontrolle über existierende und potenzielle Ressourcen im Weltraum, im Cyberspace, auf dem tiefen Meeresboden oder im Bewusstsein von Menschen und ganz einfach über die Deutungshoheit heutiger Realitäten.
  • Im Wettbewerb mit andern werden professionelle, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Autonomiezonen zunehmend eingeschränkt: Integrierte Interessenpolitik verschont nichts und niemanden, und mit dem Vorschlaghammer der Kohärenz, vorzugsweise angereichert mit Moral, werden Dialog, offene Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, wissenschaftliche, kulturelle und sportliche Zusammenarbeit mit dem «Gegner» zunehmend sanktioniert oder de-legitimiert und auf den Kontakt unter Gleichgesinnten beschränkt.


Der Wettbewerb zwischen Mächten umfasst heute …

  • nationale Interessen, wie dies in der Vergangenheit der Fall war, allerdings im Sinne umfassender wirtschaftlicher, finanzieller, technologischer, energiepolitischer, wissenschaftlicher Kontrollen und dem Streben nach Vorteilen.
  • Die Fähigkeit, internationale Regelwerke, Gesetze, Politiken und Institutionen zu beeinflussen und zu kontrollieren und sei es auch nur durch die Exterritorialität nationaler Entscheide.
  • Die Lösung globaler Fragen und deren Finanzierung mitzubestimmen (Zum Beispiel: Wer zahlt für die Kosten des Klimawandels?).
  • Die Beeinflussung regionaler Konflikte und damit der Zugang zu strategisch interessanten Gebieten und Gütern.
  • Die Positionierung gegenüber Konkurrenten und damit die Allianzfähigkeit einzelner Staaten und ihre Fähigkeit zur Machtprojektion.
  • Und der Wettbewerb weitet sich in immer neue Kampfzonen aus – jene von MDH («misinformation, desinformation, hate speech») ganz besonders.



Trends und ihre Indikatoren


Während sich die Kampfzonen um Macht und Einfluss ausweiten, scheint die Fähigkeit der Kontrolle negativer Dynamiken schwieriger:

  • Die Zonen der Fragilität, wo Auswirkungen von Klimawandel, Pandemie, Gewalt und Korruption die Bevölkerungen immer tiefer nach unten ziehen, weiten sich aus – ebenso die Zonen ohne jegliche nennenswerten Dienstleistungen für Bevölkerungen. (Zwei Milliarden leben am Rande oder unterhalb der Armutsschwelle; mehr als 100 Mio. Menschen wohnen in Gebieten, die von keiner anerkannten staatlichen Autorität regiert werden).
  • Allein die Kosten von Korruption, Krieg und Gewalt belaufen sich laut Schätzungen wohl leicht auf über 15% des globalen BSP.
  • Das Entwicklungsparadoxon wird immer deutlicher: Noch nie gab es auf der Erde so viele wohlhabende, ausgebildete, gesunde und vernetzte Leute, und noch nie gab es so viele, die in Armut und Analphabetismus leben, bei Krankheit ohne Hilfe bleiben und mit Ausgeschlossenheit und Marginalisierung zu kämpfen haben. Und diese Situation ist nicht mehr nur ein Nord/Süd Problem, sondern hat inzwischen eine immer grössere Gruppe von Leuten und Ländern erfasst – die Slums von Grossstädten, die abgelegenen ländlichen Regionen, etc.
  • Die Ungleichheitsziffern verschlechtern sich fortlaufend (Gini Kurve 1950 – 2020), seit der Finanzkrise von 2008 in beschleunigtem Ausmass.
  • Krieg und Gewaltzonen, im Sinne der Clausewitz’schen Logik des Krieges als Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln, weiten sich aus. Nachdem zahlreiche Staaten den Aggressionskrieg im Rahmen des internationalen Strafgerichtshofes illegalisiert haben, bringen ihn andere zu Respektabilität zurück. Gleichzeitig kriminalisiert sich Gewalt und bildet hybride Formen mit eigenen Gesetzmässigkeiten, während sich jene, die Vermögen durch korrupte Machenschaften angehäuft haben, in die Legalität zurückkaufen.
  • Gesetze, die als Normen und Standards für alle gedacht waren, wie das humanitäre Völkerrecht, scheinen oft primär Waffen zu sein, um den Gegner propagandistisch in die Defensive zu drängen, oder sie dienen als zynisches Verhandlungsinstrument mit der internationalen Gemeinschaft, wenn etwa die Einhaltung der Grundrechte behauptet wird, diese aber an restriktive Sicherheitsgesetze konditioniert werden.
  • Weite Kreise klagen heute über die Doppelmoral / «double standards» im internationalen System, die Absenz eines «level playing fields», den Gebrauch von Sanktionen als Instrumente der Bestrafung statt der Verhaltensänderung, die Transformation von Information als Grundlage für Politikentscheide zu Information als Waffe.



Aussenpolitische Handlungsspielräume


Während das beschriebene Bild internationaler Beziehungen wenig erbauend ist, viele Unsicherheiten und Risiken birgt und den Eindruck verstärkt, man stehe unter einem Wasserfall von Komplexität, gibt es doch zahlreiche politische Handlungsmöglichkeiten – auf nationaler und internationaler Ebene.

Selten hatten wir so viele Initiativen, Ideen und neue Ansätze wie heute. Wenn wir auf unseren Kompetenzen, Stärken, Kapazitäten, Erfahrungen und Überzeugungen aufbauen, öffnet sich eine Welt von Möglichkeiten, die es zu vertiefen, zu testen, zu diskutieren und auch umzusetzen gilt, wenn wir nur wollen.

Ich erlaube mir, etwas eklektisch nur einige Punkte zu erwähnen und Gedanken zu äussern:


1. Im Sinne eines eben erschienenen Artikels in «Foreign Affairs» möchte ich im heutigen dynamischen Umfeld den Fokus auf das Motto «Navigieren statt Positionieren» legen.

Wir werden praktisch zu allen wesentlichen Fragen mit Spannungsfeldern und Dilemmata konfrontiert – zwischen Recht und Macht, professionellen Einsichten und politischen Lösungsmöglichkeiten, Idealismus und Realismus, Wahrheit und Machbarkeit, innen und aussen, kurz- und langfristigen Perspektiven, Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie und Diskretion der Diplomatie, Prinzipien und Pragmatismus, Integrations- und Fragmentierungs-Logik, Fakten und Fiktionen, Vertrauen und Misstrauen.

Dilemmata und Spannungen bergen die Gefahr, dass man sich entweder blockieren lässt und im Dilemma stecken bleibt, oder die Geduld verliert und sich einseitig positioniert.

Ich glaube vielmehr, dass Dilemmata Hinweise geben, wo konkrete Verhandlungslösungen zu suchen und Kompromisse einzugehen sind, die helfen, Probleme zu lösen.

Das erfordert für ein Land wie die Schweiz eine sorgfältige Balance zwischen der Anerkennung der Dynamiken und Pressionen des internationalen Umfeldes, einer nüchternen Analyse der machtpolitischen Konstellationen, Klarheit über Eigeninteressen, Kreativität im Erkennen von Möglichkeiten in internationalen Verhandlungsprozessen und Kompromissbereitschaft. Lösungen fallen nicht vom Himmel, aber man kann durchaus versuchen, diese Perspektiven zu integrieren.

Ein Beispiel zur Illustration: Der Slogan von der Macht des Rechts, an welchem die Schweiz sich gerne orientiert und den sie im Gegensatz zum Recht der Macht sieht, gilt es zu differenzieren und mit Vorsicht anzuwenden. Die Schweiz tut gut daran, in ihrer Aussenpolitik Interessendivergenzen so weit als möglich als Interpretationsunterschiede zum Recht zu sehen, zu welchen sich praktische, konkrete und zeitgebundene Übereinkommen finden lassen. Die besserwisserischen und überheblichen Positionen «wir sind das Recht», sind in einem stark machtpolitisch geprägten Umfeld weder besonders nützlich noch besonders zielführend, auch wenn sie im öffentlichen Raum als mutige Positionierungen gelobt werden.


2. Angesichts des grossen Rückhaltes des Konzepts der Neutralität in der Bevölkerung braucht es Klarheit, dass Neutralität kein Ziel ist und nicht das Ziel hat, aus der legislatorischen und regulatorischen Differenz mit Nachbarn und Partnern Profit zu schlagen.

Neutralität ist eine spezifische militärische Selbstbeschränkung, welche gleichzeitig grosszügiges Engagement bei der Lösung globaler Fragen erlaubt. Statt die rechtlichen Pflichten des neutralen Staates aufzuweichen, sollte die kooperativen Komponenten der Aussenpolitik verstärkt werden.

Die Schweiz muss sich in der heutigen Welt als Beitragende zu Lösungen profilieren – die Nachhaltigkeitsziele geben einen guten Rahmen dafür – und sich dabei auf das konzentrieren, was sie trotz neutralitätspolitischer Beschränkung machen kann – vor allem auch, weil es in ihrem eigenen Interesse ist. Wir verwenden hierzulande viel Zeit, die militärischen Restriktionen der Neutralität aufzuweichen, statt ihre friedenspolitischen Traditionen, die pragmatischen Lösungsansätze bei Gesellschaftsproblemen, die stabilisierende Wirkung partizipativer Demokratie oder die Erfahrungen mit dem Ausbau einer Grundrechte-Ordnung in die internationalen Beziehungen kreativ einzubringen. Ich spreche hier nicht von der «Modelleisenbahn» Schweiz, sondern von schweizerischen Traditionen als Inspirationsquelle für den Umgang mit aktuellen Herausforderungen.


3. Als Land, mit einem grossem Finanzplatz und starkem Rückhalt für unternehmerische und marktwirtschaftliche Lösungen, könnte die Schweiz eine Pionierrolle spielen in der Bereitstellung von Kapital für globale öffentliche Güter und bei Investitionen in fragilen Kontexten und Märkten. Sie könnte sich stärker engagieren, die dazu nötigen Finanzinstrumente mit einem entsprechenden Risikomanagement zu schaffen.

Die bisherigen Anstrengungen von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe sind zwar durchaus bedeutend, aber ich zweifle daran, dass das Konzept der Hilfe angesichts der Dimensionen heutiger Verwerfungen ausreichend ist. Wasser, Gesundheit, Nahrung, Energie und Wohnen – die SDG-Agenda (Sustainable Development Goals) insgesamt – müssen nachhaltiger, breiter und schneller unterstützt werden, so dass die fast zwei Milliarden Menschen an oder unterhalb der Armutsschwelle Verbesserungs-Perspektiven erhalten. Dazu braucht es mehr Risikokapital – mit Wirkung. Und dies bedeutet etwa …

  • die Ausarbeitung eines Konzepts zum Zusammenspiel von Hilfe und Investitionen, wodurch geklärt werden müsste, wo die öffentlichen Gelder, in welchem Ausmass und gemäss welchen Kriterien eingesetzt werden.
  • Mehr staatliche Risikodeckung für privatwirtschaftliche Investitionen in einer wachsenden Zahl von Kontexten; erweiterte Verwendung eines Teils der Entwicklungsgelder für diese Zwecke und damit die Suche nach Multiplikationseffekten.
  • Förderung investierbarer unternehmerischer Lösungen in fragilen Kontexten und die Förderung diesbezüglicher zivilgesellschaftlicher Initiativen, sowie die direkte Zusammenarbeit mit Akteuren an den Frontlinien der Probleme.
  • Die Unterstützung von Weltbank und regionalen Entwicklungsbanken in der Nutzung ihrer entsprechenden Instrumente, in der Schaffung neuer Märkte und der Anpassung an erhöhte Risiken. Den Aufbau von Kapazitäten beim Management entsprechender Projekte.
  • Die Stärkung verantwortlicher und transparenter Verwendung von Finanzen und von Anti-Korruptionsautoritäten in diesen Kontexten.
  • Den Ausbau von privaten und öffentlichen Partnerschaften und den Abbau legislatorischer und bürokratischer Hindernisse für diese Neuorientierung.
  • Den Ausbau der noch bescheidenen Erfahrungen mit wirkungsorientierten Investitionen und den Ausbau der Methoden zur Wirkungsmessung von Investitionen.


Was das klimapolitische Engagement der Schweiz in den globalen Aussenbeziehungen betrifft, braucht es neben den bisherigen Anstrengungen einen grösseren Fokus auf die Bereitstellung von Kapital für die Umsetzung von Anpassungs-Anstrengungen an den Klimawandel und technischen Innovationen. Die meisten international bereitgestellten Mittel konzentrieren sich heute auf die Eindämmung des Klimawandels (Mitigation) und nicht auf Anpassungs-Massnahmen an dessen Auswirkungen in den am meisten und stärksten betroffenen Ländern. Und weil dies so ist, wird Klimapolitik international immer kontroverser: Handlungen hinken hinter politischen Verpflichtungen zurück; politische Verpflichtungen hinken hinter wissenschaftlichen Erkenntnissen zurück und die Finanzmittel fehlen. Diese Gewichtung muss geändert werden und das geht nur mit erhöhter Risikobereitschaft und dem Einsatz neuer Technologien bei gleichzeitig besserer Risikostrukturierung und -verteilung.


4. Durch die Anpassung der gesetzlichen Infrastruktur des Landes könnte die Schweiz eine Pionierrolle im Kampf gegen Korruption, Geldwäscherei und das internationale Verbrechen übernehmen. Dazu gehört unter anderem …

  • die Erleichterung der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen (hier geht es primär um die Interpretation des Grundsatzes der «doppelten Strafbarkeit») und die Stärkung der diesbezüglichen Behörden und ihrer Kapazitäten und Kompetenzen, was nicht zuletzt eine Frage der Ressourcen ist;
  • die Einbettung international angewandter rechtlicher Ansätze, wie jene der «Einziehung von Vermögen ohne strafrechtliche Verfolgung» («non-conviction based forfeture») oder «unerlaubte Bereicherung» («illicit enrichment»)in die schweizerische Gesetzeslandschaft;
  • die pro-aktive Zusammenarbeit bei der Rückführung von Geldern bei Bestechungsverfahren im Ausland, also wenn es sich offensichtlich um Gelder kriminellen Ursprungs handelt;
  • die Anpassung unserer Implementierungs- Standards bei den UN- und OECD-Anti-Korruptionskonventionen an jene unserer Partner, was konkret etwa bedeuten könnte, dass wir gewisse nicht-rechtlich verbindliche Empfehlungen de facto als Rechtsnormen übernehmen, wie dies auch zahlreiche unserer engsten Partner tun;
  • die weitergehende Unterstellung von Anwälten mit entsprechenden Tätigkeiten unter die Geldwäschereigesetzgebung;
  • die Initiierung informeller und professioneller Plattformen von Experten, um die entsprechenden Politiken und Praktiken von Staaten zu harmonisieren. Gerade weil wir von formellen Entscheidstrukuren oft ausgeschlossen sind (wegen unserem mangelnden Gewicht und wegen unserer EU-Integrationspolitik), könnte die Schweiz mehr machen, um zu besonders umstrittenen Themen internationale Experten zusammen zu bringen und konkrete Lösungen vorzudenken. «Communities of practice» (übrigens ein Begriff, der vom Schweizer Akademiker-Ehepaar Etienne und Beverly Wenger-Trayner in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde), sind oft bedeutender als formelle Institutionen, und «decision shaping» geht eben vielerorts primär über solche Gemeinschaften von Sachverständigen.
  • Standards der guten Betriebsführung und Gouvernanz bei den in der Schweiz ansässigen Unternehmen sind letztlich auch für die Aussenpolitik und die Stellung der Schweiz besonders wichtig. Daher wäre zu überlegen (v.a., wenn man den pawlowschen Reflex der Gesetzgebung vermeiden will), wie die breitere und konkrete Umsetzung solcher Standards gefördert werden könnte. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang das Konzept von kollektiven Aktionen/ «collective action». Kollektive Aktionen sind strukturierte und fortgesetzte Zusammenarbeitsmodalitäten zwischen privaten Firmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Staaten, in welchen alle Seiten ihren Beitrag leisten.


5. Vieles ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschehen, um den schweizerischen Wissenschafts- und Forschungsplatzes auch international zu stärken – von Forschungsabkommen, über die institutionelle Hilfe durch die Swissnex-Struktur und die Förderung der Forschungskooperationen unserer Universitäten und Hochschulen selbst, einschliesslich des «Geneva Science and Diplomacy Anticipator» (GESDA) als eine der neuen diplomatisch-wissenschaftlichen Initiativen.

Eine entscheidende Frage für mich bleibt, was wir noch zusätzlich machen können, um die praktische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse weiter zu fördern und innovative Projekte zu privilegieren, die für die Bereitstellung von elementaren Dienstleistungen für Bevölkerungen und Wirtschaft und zur Lösung globaler Probleme besonders wichtig sind. Die Zusammenarbeit zwischen Akteuren im Feld und Wissenschaftlern hat sich in den letzten Jahren, etwa zwischen ETH/EPFL und IKRK besonders positiv entwickelt. Solche und ähnliche Initiativen müssten unterstützt und beschleunigt werden, so dass die Schweiz in der Umsetzung der Millenniums- Entwicklungsziele auch als Pionierin anerkannt würde.

Was ich meine, wird gut mit dem Begriff «Peacetech» umschrieben: nichts gegen die normativ-ethische Begründung von Friedenspolitik, aber ich finde, es würde ebenso gut zur Schweiz passen, wenn sich ihre Wissenschaftler und Diplomaten etwas mehr als Ingenieure und Techniker des Friedens und guter Regierungsführung verstehen würden, statt nur als Boten des Guten.


6. Die schweizerische Diplomatie muss sich diesen neuen Umständen anpassen. Diese sind charakterisiert durch die Teilnahme einer Vielzahl von staatlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren an formellen oder informellen Entscheid-Prozessen. Angesichts der Vielzahl objektiver und politischer Restriktionen in unserem aussenpolitischen Umfeld, sind grössere Verhandlungsanstrengungen nötig und Verhandlungskapazitäten auszubauen, beispielsweise …

  • um auf die gleichmässige Umsetzung internationaler Übereinkommen hinzuarbeiten;
  • um professionelles Wissen vermehrt in internationale Prozesse einzubringen, wie ich das oben erläutert habe;
  • um, wo immer sich Opportunitäten ergeben, friedenspolitische Initiativen zu fördern und zu unterstützen und der Konfliktprävention grösseres Gewicht zu geben;
  • um die grossen Themen des humanitären Völkerrechtes auf den politischen Agenden zu behalten;
  • um – mit einer vertrauenswürdigen digitalen Infrastruktur – die Schweiz als «data hub» oder eben als virtuellen Sitzstaat in den internationalen Beziehungen zu verankern;
  • um im Sinne von «tech for good» and der Produktion globaler öffentlicher Güter teilzunehmen.


Und dann warte ich mit Ungeduld auf die Klärung unseres Verhältnisses mit der EU, wo äussere und innenpolitische Hürden und die Vertechnisierung der Europapolitik zu einer beispiellosen Blockierung und zum Kompassverlust geführt haben. Wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, muss man versuchen, eine möglichst einfache Frage zu stellen: Welche Europapolitik will die Schweiz führen im Lichte der nun seit 15 Jahren bekannten Tatsache, dass selektive Lösungen unterhalb der Mitgliedschaft nur mit erheblichen Einschränkungen von souveräner Mitsprache und Mitentscheidung zu erzielen sind? Will sie Abstriche bei der Souveränität oder beim Marktzugang?

In der Aufzählung des Machbaren und Wünschbaren vergisst man vielleicht allzu oft, dass Diplomatie immer auf zwei Ebenen handelt und handeln muss: an den Frontlinien von Herausforderungen und Problemen, um Lösungen möglichst nahe an den betroffenen Bevölkerungen zu verhandeln und zu unterstützen; aber dann eben auch «upstream», nahe bei den internationalen Entscheidprozessen und Akteuren, um Politiken zu beeinflussen.

Viele Probleme lassen sich eben nur lösen, wenn Staaten und Staatengruppen ihr Verhalten respektive ihre Politiken ändern. So macht es nicht viel Sinn – in der Klima-, der Energie- oder der Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik gute und innovative Projekte und Programme zu initiieren, wenn gleichzeitig über Nicht-Entscheide in der Europapolitik, über Migrationspolitik, Subventionen, Steuerpraktiken und Energiepreise die positiven Effekte vernichtet werden: Subventionierte Energieträger mit negativen Umweltfolgen sind nur der offensichtlichste Problembereich und keineswegs einer, der auf die Schweiz beschränkt ist. Der breite politische Konsens zum Ausstieg aus dem Rahmenabkommen mit der EU oder die sehr zurückhaltende Regulierung der Banken, verursachen aussenpolitische Frustrationen und damit «Kosten», welche internationale Kooperationsbereitschaft in Frage stellen. Gerade weil Aussenpolitik und Innenpolitik eng verbunden sind, kann die Schweiz aussenpolitisch nur handlungsfähig sein, wenn «Kosten» politischer Entscheide nicht einfach externalisiert werden.


7. Und noch ein Wort zum Geld: Für einige mag, was ich sage, fälschlicherweise nach grossem Geldausgeben klingen. Klar – ohne Geld geht auch nichts. Aber die meisten meiner Vorschläge handeln eben gerade nicht vom unüberlegten Geld ausgeben, sondern von der Bündelung der Kräfte, der klareren Orientierung an Zielsetzungen, die auch für unser Land wichtig sind – also um Investitionen in unsere Zukunft.



Und zum Schluss


Aussenpolitik muss immer versuchen, die Kontingenz von Ereignissen und Entscheiden in einem System von Erklärungen, Richtlinien und Rahmenbedingungen verständlich zu machen. Hier also der Versuch, einige Rahmenbedingungen aufzuführen, die mir in meinen Aktivitäten nützlich waren und die es vielleicht auch für die schweizerische Aussenpolitik sind.

In der Formulierung und Implementierung von Aussenpolitik ist es wichtig …

  • auf eigenen Stärken und Wissen aufzubauen und sich stets zu bemühen, das Umfeld mitzugestalten;
  • Stärken und Kompetenzen zu nutzen, um schnell innovative Lösungen nach Mass zu finden;
  • professionelle Kompetenz, Netzwerke und «communities of practice» in internationale politische Entscheidprozesse einzubringen;
  • die eigenen nationalen Interessen mit der Schaffung globaler öffentlicher Güter in Einklang zu bringen – die Eigeninteressen in der Lösung globaler Fragen zu betonen;
  • Politik zu fokussieren auf Wirkung und Wirkungsmessung;
  • die digitale Transformation in den Dienst der Aussenpolitik stellen und vertrauenswürdige digitale Infrastrukturen schaffen;
  • Partnerschaften zwischen verschiedenen Gruppen von Gesellschaft und Politik zu stärken und den lokalen Perspektiven eine Stimme zu geben;
  • die Risikobereitschaft zu erhöhen, Risiken aber zu strukturieren und zu verteilen;
  • wo immer möglich zur Förderung von Fähigkeiten und Kompetenzen beitragen;
  • Entscheide auf Fakten basieren («factfulness»);
  • Kriterien und ein gutes Gespür entwickeln, um zwischen Kompromissen und faulen Kompromissen zu unterscheiden;
  • präventive Ansätze stärken;
  • Diversität auf allen Ebenen fördern;
  • Politik an der Nähe zu Bevölkerungen und ihren Interessen orientieren;
  • aristotelische Tugenden pflegen – Mut und Mitgefühl zuerst.



Kurzporträt Peter Maurer
Dr. Peter Maurer ist Präsident des «Basel Institute on Governance». Von 2012 bis 2022 war Peter Maurer Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Davor war der promovierte Historiker von 2010 bis 2012 Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten in der Schweiz und von 2004 bis 2010 Botschafter und Ständiger Vertreter der Schweiz bei den Vereinten Nationen.


Bildnachweis: Titelbild International Committee of the Red Cross (ICRC), Kurzporträt Basel Institute on Governance.

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