«Permanente Höchstleistung ist eine Glücksbremse»

Vom Kraftwerk zum Kraftfeld: In ENERGY BY TURNER trifft Andreas Turner auf Menschen, die Energie als physikalische Grösse, Triebfeder oder kulturelle Errungenschaft verhandeln. Prägnant. Persönlich. Perspektivisch.

Professsor Mathias Binswanger ist Glücksforscher und Professor für Volkswirtschaft an der Fachhochschule Norwestschweiz.


Herr Binswanger, welches Stromprodukt kommt bei Ihnen zu Hause aus der Steckdose?

«Das weiss ich gar nicht so genau, und das ist irgendwie symptomatisch. Denn die wenigsten Menschen wollen einen Grossteil ihrer Freizeit dafür aufwenden, überall herauszufinden, was nun wirklich das beste – sprich nachhaltigste oder günstigste – Angebot ist. Wie ich schon in meinem Buch «Die Tretmühlen des Glücks» ausführe, ist es heute völlig unmöglich, alles immer optimal zu entscheiden. Es gibt zu viele Informationen, und sobald ich anfange, irgendwo zu optimieren, zahle ich zwangsläufig mit Zeitnot bei anderen Entscheidungen.»


Ist saubere Energie denn kein wichtiger Puzzlestein, der zum Glück des Menschen beitragen kann?

«Dazu müsste ich schon selber entsprechende Aktivitäten entwickeln – indem ich etwa eine kleine Produktionseinheit erneuerbarer Energie ans Netz bringe. Wer aber nur dieses oder jenes Energiepaket bezieht, wird sein Glück dadurch kaum steigern.»


Ist der Einsatz von erneuerbaren Energien überhaupt ein Garant für mehr Nachhaltigkeit?

«Nein. Man reduziert die Nachhaltigkeitsdiskussion gerne auf den Anteil erneuerbarer Energieträger am Gesamtverbrauch. Das ist aber eine völlig verkürzte Sichtweise. Nachhaltigkeit ist immer von Fall zu Fall zu betrachten: In einem Land wie der Schweiz kann es sogar kontraproduktiv sein, erneuerbare Energien auf Biegen oder Brechen durchsetzen zu wollen. Denn wenn etwa Windenergie mit Landschaftsschutz oder Tierschutz in Konflikt kommt, ist das nicht mehr zwingend nachhaltig.»


Gewinne bei der Energieeffizienz werden erfahrungsgemäss rasch wieder zunichte gemacht. Beispielsweise verbrauchen elektrische Geräte zwar weniger Strom, dafür werden mehr davon gekauft. Sind wir solchen Rebound-Effekten hilflos ausgeliefert?

«Vieles deutet darauf hin, denn jeder Effizienzgewinn schafft tatsächlich eine neue Nische. Und da wir in einer Wirtschaft leben, die auf Wachstum ausgerichtet ist, wird sofort versucht, diese Nische zu besetzen. Der entscheidendste Rebound-Effekt bezieht sich wohl auf den Faktor Zeit. Beispiel: Wird der Verkehr schneller – durch Strassenausbau oder Hochgeschwindigkeitszüge –, reist der Mensch einfach häufiger und legt weitere Distanzen zurück. Das erklärt auch, weshalb die Zeitdauer pro Tag, die für Mobilität aufgewendet wird, statistisch gesehen immer ungefähr konstant bleibt.»


Studien sagen, Schweizer seien im internationalen Vergleich überdurchschnittlich glücklich. Wer sich morgens in der S-Bahn umschaut, erhält allerdings einen anderen Eindruck. Woher rührt diese Diskrepanz?

«Besucher aus dem Ausland gewinnen bei uns tatsächlich nicht den Eindruck, die Schweizer seien ein besonders glückliches Volk. Menschen tendieren dazu, ihr Glück oder ihre Zufriedenheit bei Umfragen zu überschätzen. Das ist der sogenannte Social Desirability Bias. Dieser scheint in der Schweiz speziell hoch ausgeprägt zu sein – so nach dem Motto: «Wenn man alles hat, muss man doch zufrieden sein».»


Wir leben in der Tradition, dass Genussmomente immer erst erarbeitet werden wollen. Ein Stolperstein für echtes Glück?

«Ja und nein. Permanentes Nichtstun ist sicher kein Glücksfaktor. Glück und Zufriedenheit in unserer Kultur stellen sich vor allem ein, wenn nach überdurchschnittlicher Anstrengung das Gefühl aufkommt, wir hätten eine gute Leistung erbracht. Die Gefahr besteht jedoch, diesen Aspekt ins Extreme zu kultivieren, indem wir immer mehr leisten und uns nie zufriedengeben. So wird das Streben nach permanenter Höchstleistung zu einer Glücksbremse.»


Gewinn, Effizienz, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit gelten als Elemente der wirtschaftlichen Heilsbotschaft. Zudem sind wir sehr stark vom Wachstumsgedanken geprägt. Wohin führt diese Haltung letztendlich?

«Eigentlich ginge es darum, ein möglichst gutes Leben zu führen. Die Mittel, um dies zu erreichen, sind inzwischen aber zum Selbstzweck geworden. Wenn ich wettbewerbsfähiger bin, dann ist das per se schon gut. Und wenn ich innovativ bin, ist das ebenfalls gut, ohne zu wissen warum und wozu. Diese Mechanismen haben sich quasi verselbstständigt. Wenn wir uns aber abrackern, ohne zu wissen wofür, dann haben Glück und Zufriedenheit einen schweren Stand.»


Sollte man statt nach Glück einfach nach einem erfüllten Leben streben?

«Mit diesen grundsätzlichen Fragen beschäftigt sich die Philosophie schon seit Jahrtausenden. Ist es besser, möglichst gleichmütig dahinzuleben – ohne besondere Glücksmomente, aber auch ohne Phasen des Unglücklichseins? Oder ist das Wechselbad der Gefühle anzustreben – mit Momenten höchsten Glücks, aber auch ganz extremen Tiefs? Die klassische Philosophie der Stoiker vertritt den Ansatz, es sei besser, eine gleichmütige Haltung zu entwickeln. Denn die Glücksmomente würden die Unglücksmomente niemals aufwiegen. Es gibt aber andere Philosophen wie Nietzsche, die sagten, es komme nur auf die Glücksmomente an.»


Welche gesellschaftspolitischen Folgerungen sind daraus zu ziehen?

«Da sich nicht festlegen lässt, was Glück im Einzelfall genau ist, sollte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen – nämlich die Gesellschaft so zu gestalten, dass es den Menschen möglichst leicht gemacht wird, ein glückliches Leben zu führen. Herrscht etwa eine extreme Ranking-Kultur, wo die Menschen ständig dazu angehalten werden, sich mit anderen zu vergleichen, dann wird ein glückliches Leben dadurch erschwert. »


In Ihrem neuen Buch «Die Verselbstständigung des Kapitalismus» plädieren Sie für die Beibehaltung analoger Systeme und Prozesse. Weshalb?

«Weil wir uns sonst von den Entscheidungen KI-gesteuerter Algorithmen abhängig machen. Diese stellen eine «Black Box» dar und wir wissen nicht, warum KI in einer bestimmten Situation so oder so entscheidet. Und wir wissen ebenso wenig, welche wirtschaftlichen Interessen genau hinter den Algorithmen stecken und ob wir nicht digital übers Ohr gehauen werden. Deshalb ist es wichtig, weiterhin Alternativen zu haben. Beispielsweise sollte künftig niemand dazu gezwungen werden, in einem «Smart Home» zu leben, wo es zwar eine optimierte Energieversorgung gibt, wo man aber unweigerlich von KI abhängig wird.»


Zeugt es von purer Bequemlichkeit oder gar von menschlicher Dummheit, der Künstlichen Intelligenz immer mehr Raum zu geben?

«Es gibt vor allem zwei Argumente, mit denen KI den Menschen schmackhaft gemacht wird. Das ist tatsächlich zum einen die Bequemlichkeit. Wir müssen nicht mehr mühsam selbst das beste Produkt aus einem riesigen Angebot im Internet aussuchen – KI-gesteuerte Shopping-Agenten erledigen das besser und schneller. Und wir müssen auch keine Texte mehr selbst formulieren, denn auch das kann die KI. Das zweite Argument ist Sicherheit. KI verspricht Sicherheit durch vollständige Überwachung von Räumen, Prozessen und Menschen – sowie aus den gewonnenen Daten abgeleitete Sicherheitsmassnahmen. Was dann auf der Strecke bleibt, sind Freiheit und Privatsphäre.»


Was macht dieser verdichtete Mix aus Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und kapitalistischer Wirtschaft längerfristig mit uns?

«Der Mensch wird vom handelnden Subjekt zunehmend zum optimierten Objekt. Aus Konsumentensouveränität wird Algorithmen-Abhängigkeit. Viele Dinge werden tatsächlich einfacher, schneller und effizienter – es gibt zum Beispiel gewaltige Verbesserungen in der medizinischen Diagnostik. Aber wir durchschauen die Welt immer weniger und werden fremdgesteuert, ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind.»



Kurzporträt Mathias Binswanger
Mathias Binswanger (62) ist Professor für Volkswirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. Schwerpunkte seiner Forschungen betreffen den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück sowie die Umweltökonomie. Auszug aus seinen Buchveröffentlichungen: «Die Tretmühlen des Glücks» (2006), «Sinnlose Wettbewerbe» (2010), «Geld aus dem Nichts» (2015).

Buchempfehlung
Martin Binswanger: «Die Verselbstständigung des Kapitals: Wie KI Menschen und Wirtschaft steuert und für mehr Bürokratie sorgt» (2024), Wiley-VCH Verlag.
«Die Künstliche Intelligenz ist effizienter als der Mensch», sagt Mathias Binswanger. «Gleichzeitig sind die Vorgänge, welche die KI zu ihren Ergebnissen führt, nicht mehr zu verstehen, geschweige denn zu kontrollieren.» Was bedeutet das im Alltag für KonsumentInnen, Arbeitnehmende und Firmen?

Kurzporträt Andreas Turner
Andreas Turner ist Kommunikationsspezialist und Inhaber der 2025 gegründeten Zero2050 GmbH. Nach dem Studium der Germanistik und Publizistik folgte der Einstieg in den Journalismus mit Stationen bei der damals linksliberalen Wochenzeitung «Weltwoche», als Chefredaktor der TV-Zeitschrift «TR7» und als Produzent beim Wirtschaftsblatt «Cash». Zuletzt war Andreas Turner rund 20 Jahre auf Agenturseite in der Unternehmenskommunikation und im Content Marketing tätig. Heute konzipiert, textet und produziert Turner mit Leidenschaft Print- wie Online-Formate und übernimmt Beratungsaufträge im Energie- und Cleantech-Sektor.

Dieses für SICHTWEISENSCHWEIZ.CH aktualisierte Interview erschien zuerst im Magazin «smart».

Fotos: Markus Lamprecht

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