«Komplett neue Kategorie von Lebensmitteln»

Essen bedeutet weit mehr als Nahrungsaufnahme. Wir essen, um zu geniessen, uns gut zu fühlen oder unseren Körper fit zu halten. Welche Rolle Technologie dabei spielt, erklärt Christine Schäfer, Trendforscherin am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI).


«Der Mensch ist, was er isst.» Gewinnt diese Redewendung künftig noch an Bedeutung?

«Ja, denn Essen bildet einen zentralen Teil unserer Identität. Wir identifizieren uns stark damit, was wir essen. Und vielleicht noch ein wenig stärker damit, was wir explizit nicht essen.»


Mehr als 700 Millionen Menschen auf der Welt leiden Hunger. 2,5 Milliarden Menschen gelten als übergewichtig. Bis 2050 gilt es, 10 Milliarden zu ernähren. Wo sehen Sie einen Lösungsansatz?

«Die Ernährungssicherung wird ohne Zweifel zu einer der grössten Herausforderungen der Menschheit überhaupt werden. Es braucht Veränderungen sowohl bei der Produktionsweise als auch bei den Ernährungsgewohnheiten. Das geht in letzter Konsequenz nur über internationale Kooperationen.»


Wie es um globale Übereinkünfte bestellt ist, zeigen die Klimagipfel mit ihren oft ernüchternden Ergebnissen.

«Durchaus. Ein Hauptproblem ist ja, dass die grössten Verursacher – unter anderem wir hier in der Schweiz – selbst meist am wenigsten unter den Folgen zu leiden haben. Wir in unserer privilegierten Überflussgesellschaft haben sehr wenig Anreiz, etwas zu ändern.»


Der in der Schweiz seit vielen Jahren feststellbare Trend zu mehr vegetarisch und vegan lebenden Menschen setzt sich fort. Zeichnet sich hier eine nachhaltige Veränderung der Ernährungsgewohnheiten ab?

«Der Fleischkonsum ist seit einigen Jahren relativ konstant und unterliegt nur leichten Schwankungen. Es gibt aber immer mehr «FlexitarierInnen» – das sind Menschen, die ihren Fleischkonsum bewusst reduzieren und mehrmals pro Woche darauf verzichten. Vor zwanzig Jahren wurden VegetarierInnen noch belächelt, heute sind gastronomische Angebote für sie zur Selbstverständlichkeit geworden. Und auch die vegane Ernährung hat ihren Weg aus der Nische in den Mainstream gefunden.»


Wie weit entlastet eine tierfreie Ernährung den Planeten?

«Dass die Leute Fleisch essen, ist ja nicht das Hauptproblem. Wohl aber die Menge und die Art, wie es heute produziert wird. Die industrielle Hochleistungs-Fleischwirtschaft beansprucht sehr viel Fläche, um für Nutztiere Kraftfutter bereitzustellen, das gar nicht auf deren natürlichem Speiseplan steht. Die von einer internationalen Expertenkommission entwickelte «Planetary Health Diet» ist ein Ernährungsplan, der sowohl die Gesundheit des Planeten als auch die der Menschen sicherstellen soll. Darin ist weiterhin Fleisch enthalten – wenn auch nur ein Bruchteil dessen, was wir heute konsumieren.»


Ist es nicht ein typisches Merkmal vegetarischer Gerichte, dass sie sehr oft als direkter Ersatz für Fleisch zubereitet werden?

«Ja, aber das hat damit zu tun, dass Fleisch bei uns – etwa in den traditionellen Restaurants – immer noch als Highlight einer Hauptmahlzeit betrachtet wird. Beilagen sind da eher Nebensache. In gewissen anderen Kulturen kommt Fleisch viel besser integriert auf den Tisch. Der Hauptgrund, weshalb Firmen wie «Beyond Meat» oder «Planted» Fleischimitationen anbieten: Sie wollen überzeugten FleischliebhaberInnen eine geschmacklich gleichwertige Alternative bieten. In Ländern, die einen starken Wirtschaftsboom erleben, nimmt auch der Fleischkonsum rasch zu. Darum wird versucht, «bessere» Alternativen zu tierischem Fleisch anzubieten.»

«Das Ernährungssystem der Zukunft muss innerhalb planetarer Belastungsgrenzen funktionieren: weniger tierische, mehr pflanzliche Produkte, zirkuläre Systeme und transparente Lieferketten.»

Christine Schäfer, Food-Trendforscherin am GDI
Genuss, Wohlbefinden, Fitness: Der Mensch verfolgt mit seiner Ernährung ganz unterschiedliche Zwecke und Ziele. Welche Rolle wird Technologie künftig dabei spielen?

«Eine immer grössere und wichtigere, auch wenn sie für die EndkonsumentInnen nicht überall direkt wahrnehmbar ist. Sehr viel passiert hinter den Kulissen. Da wird zunehmend mit Big Data, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz gearbeitet, um Produktion und Verarbeitungsprozesse zu optimieren. Auf allen Stufen der Wertschöpfung stehen Tech-Themen ganz oben: von neuen Proteinquellen – Fleischersatz aus Pflanzen oder aus Stammzellen gezüchtet – über gentechnisch veränderte Organismen bis zu Automatisierung und neuen Online-Delivery-Modellen.»


Industriell stark verarbeitete Produkte, wie wir sie in Supermärkten antreffen, sind zu Recht stark in Verruf geraten. Da klingt es nicht gut, wenn Food Designer, Chemiker und Technologen mit Hochdruck an der Nahrung der Zukunft tüfteln, die aus dem Labor stammt.

«Es gilt da, klare Unterscheidungen zu treffen. Auf der einen Seite sind die massengefertigten, oft kalorienreichen Produkte mit viel Salz, Zucker, gesättigten Fettsäuren und Konservierungsstoffen. Auf der anderen Seite gibt es die modernen, wissenschaftlich fundierten Lösungsansätze, die eine komplett neue Kategorie von Lebensmitteln entstehen lassen – wie beispielsweise im Labor aus Stammzellen gezüchtetes Fleisch oder Fisch aus pflanzlichen Proteinen. Dabei geht es in erster Linie darum, klima- und tierfreundlichere Alternativen zur heutigen massenproduzierten Ware anbieten zu können.»


Imitiertes Fleisch auf pflanzlicher Basis oder kultiviertes Fleisch aus Gewebezüchtung – welcher Alternative räumen Sie die grösseren Marktchancen ein?

«Ich glaube nicht, dass es entweder das eine oder das andere sein wird. Vielmehr sind beide alternativen Proteinquellen je einer von vielen Schlüsseln zu einem nachhaltigen Ernährungssystem. Spannend werden auch Hybridprodukte sein. Beispielsweise eine Basis aus pflanzlichen Proteinen, die mit kultivierten Fettzellen für den richtigen Biss und den echten Fleischgeschmack angereichert werden. Und natürlich dürfen wir auch die ganzen Produkte auf Fermentationsbasis nicht vergessen. Bei der Präzisionsfermentation produzieren Mikroorganismen wie Pilze oder Bakterien die gewünschten tierischen Proteine.»


Wie ist der Zulassungsstand für Laborfleisch und wie nachhaltig verspricht seine Herstellung zu werden?

«Hier gibt es noch viele Fragezeichen. Die einzigen Länder, in denen kultiviertes Fleisch bisher zugelassen wurde, sind Singapur, die USA, Israel und Australien. In Europa gibt es Anträge zur Zulassung – beispielsweise in der Schweiz, den Niederlanden oder der UK –, die aber noch geprüft werden. In anderen Ländern hingegen regt sich Widerstand: In Österreich wird ein Verbot gefordert, in Italien hat die Regierung bereits einem Verbot zugestimmt – zum Schutz der Landwirtschaft und des kulturellen Erbes. Über die Nachhaltigkeit der Herstellung wird sehr kontrovers diskutiert. Während die BefürworterInnen davon sprechen, dass kultiviertes Fleisch einen signifikant kleineren Fussabdruck hat als Fleisch aus konventioneller Tierproduktion, prangert die Gegenseite vor allem den hohen Energieverbrauch der Bioreaktoren an.»


Bei uns wird ein Drittel aller Lebensmittel verschwendet. Sind Verwertungsangebote von Initiativen wie «Too Good To Go» oder der «Grass Roots»-Bewegung der Beginn einer grösseren Veränderung?

«Die diversen Ansätze, der Verschwendung Einhalt zu bieten, sind natürlich begrüssenswert. Allerdings stellt sich in Ländern mit hohem Lebensstandard zunehmend auch die Frage der Wertschätzung unserer Lebensmittel. Bei uns geben die Leute im Durchschnitt weniger als zehn Prozent ihres Einkommens für Nahrung aus – vor 80 Jahren war es noch gut ein Drittel. Ein einzelnes Rüebli beispielsweise kostet mich heute ja praktisch nichts. Doch da steckt einiges an Aufwand, Ressourcen und Arbeitszeit drin. Ausserdem werden heute soziale und Umweltkosten nicht im Marktpreis berücksichtigt. Mit der Einführung von «True Prices», die auf den wahren Kosten der Bereitstellung basieren, könnte man den Wert der einzelnen Lebensmittel sichtbar machen und dadurch auch das Konsumverhalten lenken.»


Wo sehen Sie die Zukunft einer gesunden, umweltfreundlichen und sozial gerechten Ernährung?

«Gesunde Ernährung geht weit über Nährstofftabellen hinaus. Sie wird künftig personalisiert, präventiv und integrativ sein. Fortschritte in der Mikrobiomforschung, Gentechnologie und digitalen Gesundheitsanalyse ermöglichen es, individuelle Ernährungspläne zu entwickeln, die nicht nur Krankheiten vorbeugen, sondern auch das persönliche Wohlbefinden steigern. Ernährung wird zur Gesundheitsvorsorge – und zum Teil der täglichen Selbstfürsorge.»


Und wo bleibt die Nachhaltigkeit?

«Sie ist keine Option mehr, sondern wird zum Standard. Das Ernährungssystem der Zukunft muss innerhalb planetarer Belastungsgrenzen funktionieren: weniger tierische, mehr pflanzliche Produkte, zirkuläre Systeme und transparente Lieferketten. Gleichzeitig muss eine zukunftsfähige Ernährung für alle zugänglich und bezahlbar sein, unabhängig von Einkommen oder Herkunft. Dafür braucht es politische Rahmenbedingungen, Bildungsinitiativen und neue Geschäftsmodelle, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich tragfähig sind – mit gerechter Preisgestaltung, Bildungszugang und resilienten, lokalen Strukturen.»


Kurzporträt Christine Schäfer
Christine Schäfer (36) schloss ihr Studium in Bern mit dem Master of Science in Business Administration ab mit Fokus auf Marketing und Consumer Behavior. Nach einem Marketing-Traineeprogramm bei Johnson & Johnson kam sie 2016 zum Gottlieb Duttweiler Institut (GDI), wo sie als Researcher arbeitet. 2024 erschien unter ihrer Federführung der Report «Decoding Food Culture – wie Innovationen zu Traditionen werden». Christine Schäfer lebt in Luzern, isst und trinkt sehr gerne, aber bewusst – und setzt in der Freizeit auf Bewegung, sei es im Gym, auf dem Gravel- bzw. Mountainbike oder beim Wandern. Bleiben Sie über die aktuellen Trends in Food, Gesundheit und Handel auf dem Laufenden mit den kostenlosen GDI-Studien.


Kurzporträt Andreas Turner
Der Publizist Andreas Turner verhandelt Energie wahlweise als physikalische Grösse, Triebfeder oder kulturelle Errungenschaft – vorzugsweise im 1:1-Gespräch. Unter der Marke ENERGY BY TURNER konzipiert, textet und produziert er Print- und Online-Formate, namentlich im Einsatz für die Energiewende sowie im Mobilitäts- und Cleantech-Bereich.

Andreas Turner ist Kommunikationsspezialist und Inhaber der 2025 gegründeten Zero2050 GmbH. Nach dem Studium der Germanistik und Publizistik folgte der Einstieg in den Journalismus mit Stationen bei der damals linksliberalen Wochenzeitung «Weltwoche», als Chefredaktor der TV-Zeitschrift «TR7» und als Produzent beim Wirtschaftsblatt «Cash». Zuletzt war Andreas Turner rund 20 Jahre auf Agenturseite in der Unternehmenskommunikation und im Content Marketing tätig. Heute konzipiert, textet und produziert Turner mit Leidenschaft Print- wie Online-Formate und übernimmt Beratungsaufträge im Energie- und Cleantech-Sektor.


Bildnachweis: GDI GOTTLIEB DUTTWEILER INSTITUTE

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