Ganz sicher ist hierzulande: Die nächste Abstimmung kommt bestimmt. Die beiden Historiker David Hesse und Philipp Loser untersuchen im Sachbuch «Heute Abstimmung!» dreissig wichtige Volksentscheide, die die Schweiz seit 1848 verändert haben.
Volksabstimmungen: Ein Alleinstellungsmerkmal der Schweiz?
Auf ihr direktdemokratisches System sind die Schweizerinnen und Schweizer stolz. Indes sind Volksabstimmungen kein Alleinstellungsmerkmal der Schweiz. Die beiden Autoren verweisen etwa auf die USA, wo regional abgestimmt wird, jüngst beispielsweise über …
- ein Verbot des Ausländerwahlrechts (Kentucky, angenommen),
- eine Altersobergrenze von 81 Jahren für Kongressabgeordnete (North Dakota, angenommen)
- oder über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch (diverse Gliedstaaten, dagegen wie dafür)
Im Vereinigten Königreich hat das Stimmvolk 2016 ohne viel Übung in Abstimmungen den Austritt aus der Europäischen Union beschlossen.
Das helvetische Volk ist fleissig
Die Schweiz, so Hesse und Loser, stimmt am fleissigsten ab, eigentlich immerzu, zumindest regelmässig an bis zu vier nationalen Abstimmungssonntagen im Jahr. Seit Gründung der modernen Eidgenossenschaft 1848 hat das Volk über 677 Vorlagen und damit über alles Mögliche abgestimmt (Stand April 2025).
Die Urnengänge steigen an der Zahl: Von 1848 bis 1900 kamen nur 58 Vorlagen vors Volk, im Durchschnitt 1.1 Volksabstimmungen pro Jahr. Jüngst von 2011 bis 2020 waren es 84 Abstimmungen auf Bundesebene oder 8.4 Urnengänge jährlich. Das ist Faktor 8 gegenüber der Gründungszeit des modernen Bundestaates 1848.
Abstimmen war ein Privileg der wenigen
Wer ist stimmberechtigt? Wer ist ausgeschlossen? Die beiden Buchautoren zeichnen die Entwicklung nach: «Abstimmen war in der Schweiz lange Zeit ein Privileg der wenigen. Nur Männer im Alter von über 20 Jahren mit Vermögen und reinem Leumund hatten 1848 im neuen Bundesstaat das Stimm- und Wahlrecht. Sie stellten damals nicht einmal ein Viertel der Wohnbevölkerung. Frauen, verurteilte Straftäter, Steuerschuldner, Armengenössige, Zwangsverwahrte und Landstreicher durften keine Stimme abgeben, in einigen Kantonen führte bereits ein Wirtshausverbot zum Entzug des Stimm- und Wahlrechts. Auch die Schweizer Juden waren bis 1866 von der politischen Teilhabe ausgeschlossen.»
Erst 1971 stimmten die Schweizer Männer dafür, auch den Frauen das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene zu gewähren. Neben Liechtenstein war die Schweiz damit das letzte Land Europas, selbst Tschad (1958) und Iran (1963) waren früher dran.
Ebenfalls 1971 öffnete das Volk weiteren Bevölkerungskreisen den Zugang zum Stimmrecht: «Schuldner und Mittellose (wurden) bei Abstimmungen auf Bundesebene zugelassen, auch Strafgefangene und Vorbestrafte dürfen nicht länger ausgeschlossen werden. Seit 1977 dürfen Schweizerinnen und Schweizer mitstimmen, die ihren Wohnsitz im Ausland haben. Und 1991 wurde das Stimm- und Wahlrechtsalter von 20 auf 18 Jahre gesenkt.»
Warum geben viele keine Stimme ab?
Einerseits dürfen viele nicht mitmachen (zu jung, kein Pass), anderseits verzichten Stimmberechtigte auf einen Urnengang (keine Lust, keine Zeit, dem System entfremdet, enttäuscht, überfordert, usw.). Für Hesse und Loser sind es in beiden Gruppen «zu viele».
Dass sich Teilnehmen lohnt, ist für die beiden Historiker Hesse und Loser klar: «Abstimmen ist keine politische Folklore. Abstimmen wirkt. Mit Stimmzetteln hat die Bevölkerung die Schweiz verändert», und lassen mit einem «Und wie!» ihrer Begeisterung freien Lauf. Den Nachweis liefern sie umgehend: «Die Schweiz könnte ein Land sein mit nur 3 Landessprachen, 25 Kantonen und ohne Armee. Sie ist es nicht. Weil das Stimmvolk es anders wollte.
«Die Schweiz wird geformt von
David Hesse und Philipp Loser
Wasser, Wetter, Stein – und Volksabstimmungen.»
Nicht alle Abstimmungen haben das Land eindeutig und dauerhaft verändert. Bei Beschlüssen wie zum «Schutz der Alpen» und zur «Begrenzung der Masseneinwanderung» ist die Wirkung verklungen; beide Vorlagen wurden angenommen und stehen in der Verfassung, richtig umgesetzt aber wurde beides nie: «Es fehlen der politische Wille, der Handlungsspielraum, die Phantasie», bemängeln die Buchautoren.
Tour d’Horizont durch die wirksamsten Volksentscheide
In «Heute Abstimmung!» legen Hesse und Loser 30 Volksentscheide vor, die mit der alten Zeit brachen und die Schweiz bis heute prägen. Die beiden Historiker deklarieren ihre Auswahl «ohne Anspruch auf Absolutheit».
In ihrem Streifzug durch wichtige 30 Urnengänge seit 1848 nennen die Autoren jeweils die Jahrzahl, die Vorlage und setzen, Hesse und Loser sind auch Journalisten, zur Veranschaulichung der Wirkung jedes einzelnen Volksentscheids gekonnt teils streitbare und durchwegs prägnante Titel. So gekonnt, dass SICHTWEISENSCHWEIZ.CH diese für alle «Gourmets» der direkten Demokratie tabellarisch aufbereitet hat.
Jahr | Abstimmungsvorlage | Wirkung des Volksentscheids von den Buchautoren David Hesse und Philipp Loser in prägnante Titel gesetzt |
1874 | Totalrevision der Bundesverfassung | Mehr Macht für das Volk |
1877 | Fabrikgesetz | Innovativer Arbeitnehmerschutz in den Fabriken |
1893 | Schächtverbot | Die erste Volksinitiative grenzt aus |
1898 | Eisenbahngesetz | Die Geburt der SBB |
1915 | Kriegssteuer | Die erste Bundessteuer |
1918 | Proporzwahl | Das Ja zur Revolution |
1938 | Rätoromanisch | Die viersprachige Schweiz entsteht |
1938 | Strafgesetzbuch | Ein humanes Strafrecht in einer Zeit der Gewalt |
1947 | AHV | Sozialstatt statt Sozialismus |
1949 | Vollmachten | Das Stimmvolk will zurück zur Demokratie |
1966 | Auslandschweizer | Die fünfte Schweiz wird offiziell |
1970 | Überfremdung | James Schwarzenbach lanciert die permanente Ausländerdebatte |
1971 | Frauenstimmrecht | Hundert Jahre Kampf |
1978 | Kanton Jura | Der 26. Kanton entsteht |
1980 | Gurtenobligatorium | Anschnallen, bitte! |
1985 | Neues Eherecht | Der Abschied vom Paternalismus |
1987 | Rothenthurm | Schweiz, Land der Moore |
1989 | Schweiz ohne Armee | Das Ende der Schweizer Armee |
1990 | Atom-Moratorium | Das Volk stoppt den Bau weiterer Atomkraftwerke |
1992 | EWR-Beitritt | Die Schweiz wird zur Insel |
1994 | Anti-Rassismus-Strafnorm | Was darf man noch sagen? |
2001 | Schuldenbremse | Ein freisinniger Exportschlager |
2002 | UNO-Beitritt | Der Beitritt zur Welt |
2002 | Fristenlösung | Wer bestimmt über den Körper der Frau? |
2004 | Verwahrung | Verwahren und vergessen |
2004 | Mutterschaftsversicherung | 20 Anläufe für eine Mutterschaftsversicherung |
2005 | Gentech-Moratorium | Ein Ja zu gentechfreier Nahrung |
2010 | Ausschaffung | Das Volk zwingt die Justiz zur Härte |
2013 | Abzocker | Der Bruch mit der Wirtschaft |
2014 | Masseneinwanderung | Die Schweiz und der Dichtestress |
Das Volk stellt Weichen – Wirkung und Wandel inklusive
So sehr in jeder Volksabstimmung etwas Ambivalentes steckt, so dingfest und folgenreich fallen Weichenstellungen des Volkes für das Land aus, wie Hesse und Loser in der NZZ am Sonntag anhand zweier Musterbeispiele darlegen.
Beispiel 1: Bei der «Totalrevision» der Bundesverfassung 1874 «erzwang sich das Volk mehr Macht, schuf das fakultative Referendum, also das Recht auf Einsprache gegen Bundesgesetze und andere Erlasse des Parlaments. Dieses Vetorecht wurde anschliessend von katholisch-konservativen Kräften rege genutzt und erschütterte so erstmals die Dominanz des Freisinns. Und es beförderte das Aufkommen politischer Parteien, da jemand die für ein Referendum notwendigen Unterschriften sammeln (erst 30 000, ab 1978 dann 50 000), den Protest koordinieren musste.»
Beispiel 2: Das «Bundesgesetz betreffend Arbeit in den Fabriken», vom Volk 1877 angenommen, «war die erste staatliche Regulierung der Wirtschaft. Es führte in der Fabrik den Normalarbeitstag von 11 Stunden ein (10 Stunden am Samstag), verbot die Fabrikarbeit von Kindern unter 14 Jahren, erliess Vorschriften zu Hygiene und Sicherheit am Arbeitsplatz, machte Unternehmer für körperliche Schädigungen haftbar und verfügte einen ersten (unbezahlten) Wöchnerinnenschutz. Das Gesetz machte die Schweiz damals international zur Pionierin im Bereich des Arbeitnehmerschutzes.»
Erlernt und eingeübt: Alles können, aber nicht alles tun
Das Stimmverhalten in der Schweiz gilt als «vernünftig», «wenig überraschend», vermengt mit «Ausreissern» oder mit Rissen in der «Stimmbesonnenheit», «aus Wagemut oder Wut», wie die Autoren ergründen, für die jedoch feststeht: «Etwas Besseres als die direkte Demokratie ist nicht in Sicht.» Und doch gibt es Stimmen, die insbesondere vor mehr direkter Demokratie warnen. «Volksabstimmungen wie in der Schweiz gelten spätestens seit dem Brexit als riskant, ja gefährlich. Wer soll die Menschen daran hindern, an der Urne die Todesstrafe wieder einzuführen, die Steuern abzuschaffen, eine Mauer ums Land zu bauen?»
Angesichts der weitreichenden direktdemokratischen Ermächtigung hat sich das Schweizer Stimmvolk eine gewisse Zurückhaltung angeeignet und diese in Abstimmungen wie dem Verzicht auf sechs Wochen Ferien (2012) oder der Ablehnung eines Mindestlohns (2014) auch sich selber auferlegt. Die Rücksichtnahme auf Andersdenkende und Minderheiten gelang hierzulande immer wieder erstaunlich gut. «Toleranz und Zurückhaltung sind in der Demokratie zentrale Aufgaben für das mächtige Volk. Alles können, aber nicht alles tun. So darf es weitergehen. In weiteren 676 Abstimmungen».
Es ist Hesse und Loser zu wünschen, dass dieses lesenswerte und erkenntnisreiche Buch in viele weitere Auflagen geht (und in weitere Landessprachen übersetzt wird), gewissermassen als Klassiker einer wirkmächtigen direkten Demokratie; mit jeder zusätzlichen Auflage werden die Autoren die eindrückliche Zahl der Abstimmungen nachgerade spielerisch erhöhen und nachführen dürfen: «In weiteren x Abstimmungen.»
Die verkannte Kernkompetenz der Schweiz
Abstimmen ist mehr als ein «Ja» oder «Nein» auf dem Stimmzettel. Volksentscheide sind für die Schweizer Bevölkerung mehr als Abstimmungsergebnisse an Zahl und Ziffer. Abstimmungsvorlagen «bringen alle drei bis vier Monate Hunderttausende Menschen ins Gespräch» und schaffen, so die Autoren, «damit so etwas wie Gemeinschaft». Darin erhalten die Historiker Hesse und Loser Support aus der Wirtschaft, in der Folge eine Betrachtung, die über eine herkömmliche Rezension und bewusst auch über das Buch «Abstimmung heute!» hinausgeht und Brücken zwischen unterschiedlichen Sichtweisen baut.
SICHTWEISENSCHWEIZ.CH-Autor Werner Schaeppi, der Unternehmen, Institutionen und Behörden im Dialog mit vielfältigen Stakeholdern in komplexen Bauvorhaben begleitet, bezeichnet die Schweiz als «Das Land der verkannten Stärken» – und dieser Befund hängt direkt mit der Geschichte der direktdemokratischen Praxis zusammen: «Ein Eckpfeiler der Schweizer Erfolgsgeschichte ist der Dialog an der Basis. Diesen Bottom-up-Dialog sehe ich als verkannte Schweizer Kernkompetenz, die im Zuge der Globalisierung an Relevanz zu verlieren droht.» Die Schweiz dürfe selbstsicherer auftreten, schreibt Schaeppi: «Unser Land darf für mich gegenüber Europa und der Welt lautstark und mit Stolz sein basisdemokratisches Bottom-up-Modell als Gegenpol zum dominierenden Top-down-Modell vertreten.»
Weder mit ihrem ökonomischen Gewicht noch mit militärischer Stärke könne die Schweiz zur Lösung politischer Herausforderungen beitragen, dazu eignet sich für Schaeppi hingegen die Schweizer Dialog-Kultur, namentlich «Erfahrung und Wissen im Umgang mit unterschiedlichen Standpunkten und Interessen.» Vielleicht ist dies die DNA der Schweiz, ist dieser Asset der eigentliche Exportschlager der Schweiz.
Unternehmer und Sozialpsychologie Werner Schaeppi identifiziert «Wertschätzung» und «Sichtbarkeit» als Errungenschaften, die hierzulande gelernt sind: «Die Schweizer Kommunikationstugend basiert auf dem Fakt, dass sie jedermann eine Stimme gibt. Jeder hat das Recht und darf im Gefühl leben, dass seine Meinung es wert ist, gehört zu werden. Dieses Empfinden ist die Basis unseres Selbstverständnisses, unserer kollektiven und individuellen Identität.»
Volksabstimmungen befördern Dialog-Kultur «made in Switzerland»
Fazit: «Abstimmen ist mehr als das Ergebnis», schreiben Hesse und Loser und verweisen zu Recht darauf, dass direktdemokratische Abstimmungsvorlagen die Schweizer Bevölkerung regelmässig ins Gespräch bringen – über alles Mögliche, meist über Weichenstellungen.
Die Willensnation Schweiz «wurde durch die jahrzehntelange direktdemokratische Praxis stabilisiert, wenn nicht überhaupt erst ermöglicht», ergründet der Politologe Hanspeter Kriesi.
Diese jahrzehntelang eingeübte Praxis basierend auf dem «Bottom-up-Dialog» hat in diesem Land eine Stärke entwickelt, die Werner Schaeppi auf dieser Plattform als «Schweizer Kommunikationstugend» bezeichnet.
So stehen direkte Demokratie und Bottom-up-Dialogkultur regelmässig und praktisch in einem Wechselspiel. Der Dreiklang mit Reden, Verhandeln und Abstimmen tut den Menschen gut. Und tut der Schweiz als Land gut.
Kurzporträt David Hesse und Pilipp Loser


Buchempfehlung

David Hesse, Philipp Loser: Heute Abstimmung! 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben. Limmat-Verlag, Zürich 2024.
Hauptbildnachweis: «Ja.» Hans Erni. 1947. Zwei Plakate zur AHV-Abstimmung. Der Künstler Hans Erni malte eine Version mit Frau (Hauptbild) und eine Version mit Mann (siehe nachstehend im Service-Kapitel). Die beiden Plakate zur Gründung der staatlichen Altersvorsorge 1947 kommen ohne das Schlüsselwort «AHV» aus. Bild: Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB.
Lesehinweis auf SICHTWEISENSCHWEIZ.CH: Stimmrechtsalter 16.
Service: Einige Abstimmungsplakate zur Illustration
Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Judith Arnold bezeichnet das «Ziel von Abstimmungsplakaten, das Stimmvolk von einer Vorlage zu überzeugen oder abzuraten, indem die positiven oder negativen Folgen argumentativ entfaltet oder affektiv vor Augen geführt werden.»
Zur Illustration folgt eine kleine Auswahl an Bild- und Textplakaten zu Abstimmungen in der Geschichte der direkten Demokratie in der Schweiz – in chronologischer Folge.








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