Wer vom Bahnhof Lausanne zu Fuss die Stadt hinaufsteigt, erblickt auf der ersten Anhöhe die mittelalterliche Kirche Saint-François. In der angrenzenden Hausreihe findet er den Eingang zum «Cercle littéraire», einer bürgerlich möblierten Bibliothek, die den örtlichen Freunden der Kunst, der Literatur und der Wissenschaften offensteht. Vor 250 Jahren wurde in diesem Haus der Schweizer Schriftsteller, Politiker und Staatstheoretiker Benjamin Constant geboren.
Constant, im deutschen Sprachraum wenig bekannt, war vielleicht der segensreichste Intellektuelle, den die Schweiz hervorgebracht hat. Als er 22 Jahre alt war, brach die Französische Revolution aus. Sie sollte sein Leben bestimmen: Die Revolutionswirren, die Schreckensherrschaft und die Republik, die sich unter grosser Unsicherheit entfaltete, kennzeichneten Constants Leben und Denken, das, von Liebesqualen und Spielschulden abgesehen, ganz von der Politik geformt war.
Constant wurde französischer Parlamentarier, zu seinem Lebensende Präsident des obersten Verwaltungsgerichts und hatte nach dem Tod um ein Haar im Panthéon Einzug gehalten, der letzten Ruhestätte für Frankreichs Helden. Er hinterliess ein politphilosophisches Werk, das von verblüffender Belesenheit, Menschenkenntnis und einer Freiheitsliebe zeugt, das bis heute frisch wirkt, als hätte der Autor das 20. Jahrhundert mit seinen neuen Revolutionen, Despotien und aufgeblasenen Staatsapparaten vorausgeahnt.
Constant bezog seine Inspiration aus den drei massgebenden europäischen Kulturräumen, die je verschiedene Zivilisationen hervorgebracht haben und in deren geeigneter Kombination bis heute ein unschätzbares Potenzial liegt: dem französischen, dem englischen und dem deutschen. Schliesslich entdecken wir bei ihm eine reiche Korrespondenz und Tagebücher, die dem Leser Einblick in die Leiden eines zur Depression neigenden Hochbegabten geben und von einer seltenen Aufrichtigkeit und Offenheit sind.
Benjamin Constant kam am 25. Oktober 1767 in Lausanne als Spross einer Hugenottenfamilie zur Welt, die zwei Jahrhunderte zuvor vor den französischen Konfessionskriegen in die Schweiz geflohen war. Die Mutter starb an den Folgen seiner Geburt, was wahrscheinlich seine lebenslange Bindungsangst erklärt. Sein Vater war Offizier in der holländischen Armee, was vor der Schweizer Bundesverfassung von 1848 rechtens und in guten Familien – sein vollständiger Familienname war Constant de Rebecque – nicht selten war.
Lehr- und Meisterjahre
Der junge Constant besuchte die Universitäten Oxford (1780), Erlangen (1782) und Edinburg (1785), wo er etwa bei den Philosophen Adam Smith und Adam Ferguson studierte und mit dem aufgeklärten Gedankengut Grossbritanniens, der Heimat des Liberalismus, vertraut wurde. Er lernte die dreissig Jahre ältere Schriftstellerin Isabelle de Charrière kennen, die ihn förderte und nicht nur seine Geliebte, sondern auch eine Art Mutter für ihn wurde. 1788 wurde er Kammerherr am Braunschweiger Hof, wo er eine Hofdame heiratete, von der er sich kurze Zeit später scheiden liess, um sich mit einer anderen, noch verheirateten Hofdame zu verbinden, Charlotte von Hardenberg, die er allerdings erst 1808, nach mehreren weiteren Liebesbeziehungen, heiratete, ohne je mit ihr glücklich zu werden. Sein unglückliches Liebesleben verarbeitete Constant in «Adolphe», dem ersten psychologischen Roman in der Literaturgeschichte, den er 1816 publizierte.
Die Französische Revolution, vom Ausbruch 1789 bis zur Schreckensherrschaft 1793/1794, die 40’000 Tote forderte, verfolgte der junge Mann aus dem entfernten Braunschweig. 1794 lernte Constant in Lausanne Germaine (Madame) de Staël kennen, die Tochter des Genfer Bankiers und französischen Finanzministers Jacques Necker, die unglücklich verheiratet war und zu der er eine lange, auch leidenschaftliche, nervenaufreibende und geistig äusserst fruchtbare Beziehung aufbaute. Nach der Schreckensherrschaft in Frankreich begleitete Constant de Staël nach Paris, wo diese einen literarischen Salon führte und er seine Karriere als vielbeachteter politischer Publizist und Redner begann.
Nach Napoleons Staatsstreich 1799 wurde Constant Mitglied des Tribunats, einer mit geringen Befugnissen ausgestatteten Parlamentskammer. Da er sich zu Napoleons Missfallen für einen Parlamentarismus nach englischem Vorbild aussprach, wurde er 1802 seines Amtes enthoben. Er folgte Germaine de Staël, die von Napoleon bereits ins Exil geschickt worden war, auf deren Schloss Coppet im Kanton Waadt, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. 1815 legte er in den «Principes de politique» seine Vorstellungen einer liberalen Demokratie dar.
«Constant kritisierte Napoleon für dessen Kriege und Eroberungen, da diese sich am antiken martialischen Ideal orientierten anstatt an den neuen und nicht weniger mächtigen Formen des menschlichen Verkehrs: der Industrie, dem Handel und der Wissenschaft.»
Nach Napoleons Abdankung folgte für Constant eine unruhige Zeit, da er die Politik beeinflussen wollte, ohne zu wissen, wer künftig in Frankreich den Staat führen würde. Nach der Wiederherstellung der Monarchie unter Ludwig XVIII. (dem Bruder des in der Revolution hingerichteten Ludwig XVI.) sprach Constant sich für eine konstitutionelle Monarchie aus, das heisst für einen König, dessen Macht durch eine Verfassung begrenzt wird. Während Napoleons kurzer Rückkehr in die Politik schloss Constant sich ihm, den er lang verabscheut hatte, an – in der Hoffnung, dass jener eine liberalere Verfassung als der König einsetzen würde. Während Napoleons «Herrschaft der hundert Tage» entwarf er in dessen Auftrag eine Änderung der kurz zuvor von Ludwig XVIII. eingesetzten Verfassung.
Constants Frontwechsel brachte ihn in Verruf, und er musste Frankreich nach Napoleons endgültiger Niederlage bei Waterloo 1815 vorübergehend verlassen. 1817 durfte er zurückkehren, und 1819 wurde er in die Abgeordnetenkammer (grosse Parlamentskammer) gewählt. Er wurde Anführer der «Unabhängigen» (später «Liberale» genannt), mehrfach wiedergewählt und behauptete sich als gefürchteter Parlamentsredner und Pamphletist. Er verfasste theoretische Schriften und wurde zum Vordenker des Liberalismus, wodurch er nicht nur Frankreich, sondern die Freiheitsbewegungen in ganz Europa beeinflusste. 1824 bis 1830 verfasste er eine umfangreiche religionswissenschaftliche Abhandlung. Nach der Julirevolution 1830, bei der die Liberalen sich gegen die Ultramonarchisten durchsetzten, die konstitutionelle Monarchie aber beibehielten, wurde Constant zum Präsidenten des obersten Verwaltungsgerichts ernannt. Der König schenkte ihm 300’000 Francs, mit denen er seine Schulden begleichen konnte. Benjamin Constant starb am 8.Dezember 1830 und wurde, nachdem ihm gegen 150’000 Pariser und Pariserinnen das letzte Geleit gegeben hatten, auf dem Friedhof Père Lachaise beigesetzt. Er war ein Star seiner Zeit.
Rousseaus Denkfehler
In der Rede «De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes» von 1819 arbeitet Constant die Wesensunterschiede zwischen einer modernen Demokratie und deren griechischem und römischem Vorbild heraus.
Allein der riesige Flächenunterschied zwischen einem antiken Stadtstaat und einem neuzeitlichen Nationalstaat zeigt an, dass das antike Ideal der hauptsächlich mit Politik beschäftigten Bürger sich nur auf engstem Raum – prototypisch auf dem Marktplatz – verwirklichen lässt, nicht zu reden vom wegen der materiellen Kargheit jener Zeit bestehenden Bedarf an Sklaven, damit eine Bürgerfamilie sich am Leben erhalten konnte. Kurzum: Das antike Ideal passt gar nicht in die moderne Zeit. Dies war der Denkfehler von Jean-Jacques Rousseau, dem Constant deutlich widersprach, und auch der Pariser Revolutionäre, die alles unternahmen, um einen immer mächtigeren Staat zu schaffen, der die Bürger allmählich erdrückte und schliesslich terrorisierte.
Ein bedeutender Unterschied zwischen der Moderne und der Antike lag im neuzeitlichen Freiheitsbegriff, der sich aus dem Christentum entwickelt hatte. Der antike Bürger machte nicht Politik, um sich zu entfalten, sondern aus einer gesellschaftlichen Pflicht heraus. Der moderne Mensch hatte sich grundlegend gewandelt. Deshalb kritisierte Constant Napoleon für dessen Kriege und Eroberungen, da diese sich am antiken martialischen Ideal orientierten anstatt an den neuen und nicht weniger mächtigen Formen des menschlichen Verkehrs: der Industrie, dem Handel und der Wissenschaft.
Die moderne Freiheit meint vor allem das Recht auf ein geschütztes Privatleben – geschützt vor der Einwirkung des Staates, der Gesellschaft und anderer Individuen. Der Liberalismus gründet in diesem neuen Paradigma, was uns deutlich macht, wie aktuell und lesenswert Benjamin Constant heute noch ist.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Weltwoche.
Kurzporträt Lukas Weber

Bildnachweis Benjamin Constant: Anonymous portrait, 1810s, Portrait de Benjamin Constant (1767-1830), écrivain et homme politique – P1331 – Musée Carnavalet Paris.
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