Herbert Lüthy (1918-2002) gehört zu den herausragendsten Persönlichkeiten des geistigen Lebens in der deutschsprachigen Schweiz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Der Historiker Urs Bitterli würdigt Herbert Lüthys Ausnahmetalent: «Als erstaunliche Doppelbegabung war er sowohl auf publizistischem Gebiet wie auch als Wissenschafter tätig; in beiden Bereichen hat er massgebende Schriften verfasst.»
Seinen Aufsatz hat Herbert Lüthy 1961 unter dem Titel «La Suisse a contre-courant» geschrieben, um erstaunten französischen Lesern die «uneuropäische» Haltung der Schweiz gegenüber der europäischen Integration zu erklären. Die vorliegende deutsche Fassung stammt von 1963.
Herbert Lüthys «Schweiz als Antithese» hat es verdient, wiedergelesen zu werden, zumal seine Überlegungen zum spannungsvollen Gegensatz zwischen schweizerischer Selbstbezogenheit und Weltoffenheit sowie die Rolle unseres Landes in Europa weder an Aktualität noch an Brisanz einbüsst haben.
Die Schweiz als Antithese (1961)
Die treffenden Familienporträts sind selten das Werk der Familienmitglieder selbst. Es sollte einer vielleicht nicht Schweizer sein, um ein gutes Bild der Schweiz zu zeichnen. Wo sie nicht ganz im dunklen Schoss der Sippe aufgehen, geben sich die Angehörigen einer Familie meist betont als körperlich und geistig unverwechselbare Individuen, und nicht immer fühlen sie sich einander besonders nahe. Es bedarf schon eines fremden Auges, um den familiären Zug, die Übereinstimmung der Nasen, der Gebärden oder des Tonfalls an ihnen zu finden. Die Schweizer sind sich ihrer Verschiedenartigkeit nicht nur bewusst, sie sind geradezu stolz darauf, sie lieben es, sich von Kanton zu Kanton oder von Stadt zu Stadt zu verlästern oder zu verulken, und wenn sie sich schliesslich mit ihren Landsleuten doch recht gut oder doch leidlich vertragen, so gerade um dieser Verschiedenheit willen. Fragt man einen von ihnen nach seiner Nationalität, so wird er selten antworten, er sei Schweizer. Er ist Basler – und zwar von Basel-Stadt, und entweder von Klein- oder von Gross-Basel – oder er ist Waadtländer oder Bündner. Man muss sie von aussen her ansehen, um zu bemerken, worin sie sich ähnlich sind, und eine der hervorstechendsten Ähnlichkeiten ist gerade dieser Lokalpatriotismus, dieser enge und manchmal komische Partikularismus, der «Kantönligeist», der die Einheit der Schweiz ausmacht, indem er sie zu leugnen scheint. Diese Eigenart hat zunächst etwas Verblüffendes für den Besucher aus den grossen oder weniger grossen Staaten Europas und sogar aus den neuen Nationen in allen Teilen der Welt, die alle so eifersüchtig über ihre nationale Einheit wachen. Ein bretonischer, baskischer oder elsässischer Autonomist hat alle Aussicht, als schlechter Franzose zu gelten, ein walisischer als zweifelhafter Engländer; ein trentinischer oder sizilianischer in Italien, ein dravidischer oder Assam-Autonomist in Indien, ein Aschanti-Autonomist in Ghana oder gar ein katangischer im Kongo ist eine Gefährdung der nationalen Einheit. Ein Walliser oder Appenzeller Autonomist dagegen ist das Muster des Schweizer Bürgers, ja der Menschentyp, dem die Schweiz ihr Bestehen verdankt. Nur der jurassische Autonomist ist zur Zeit ein Spielverderber, weil er dem imperialen Koloss unter den schweizerischen Miniaturvaterländern, Bern, die romantische Irredenta eines untergegangenen Fürstbistums entgegensetzt. Die Walliser, Nidwaldner oder Appenzeller Autonomisten hingegen, die niemand mit diesem Namen bezeichnet, sind staatserhaltende Landessöhne, da das Wallis, Nidwalden oder die Halbkantone Appenzells von jeher nicht nur autonom, sondern nach dem Wortlaut der Verfassung auch souverän sind; der erste Artikel der schweizerischen Verfassung definiert die Schweiz als einen «Bund der Völkerschaften der 22 souveränen Kantone der schweizerischen Eidgenossenschaft». Alle modernen Staaten haben sich gebildet, indem sie den Partikularismus ihrer konstituierenden Teile bekämpften; die Schweiz hingegen ist entstanden und hat sich durch oft schwere Krisen ihrer Geschichte erhalten gerade durch den Partikularismus ihrer Landesteile, ihrer «zweiundzwanzig Völkerschaften», um den malerischen Ausdruck aus ihrem Grundgesetz nochmals zu gebrauchen. Die ganze Existenz und vor allem das ganze Selbstbewusstsein dieses Landes beruht auf diesem Paradox.
Die Schweiz nimmt nicht viel Raum auf der Weltkarte ein: Sie ist dieser kleine Fleck in der Mitte Europas, den man mit der Bahn in viereinhalb Stunden von Basel bis Chiasso durchquert. Ein kleines Land, das den Eindruck erweckt, geordnet und recht wohl mit sich selbst zufrieden zu sein, und dem nur seine topographische, typologische und linguistische Vielfalt auf so kleinem Raum eine Dimension der Grösse verleiht: Mit seinen fünf Millionen Einwohnern, die vier Sprachen und zahlreiche – sogar für den, der sie nicht versteht, sehr verschieden klingende – Dialekte sprechen, die sich in zwei grosse und zahlreiche kleine Glaubensbekenntnisse trennen und unter denen sich archaische Lebensweisen neben denen des technischen Zeitalters behaupten, ist es ein Mikrokosmos eigener Prägung im Schnittpunkt von drei grossen Kulturen Westeuropas. Diese Verschiedenartigkeit, deren sprachlicher Aspekt zwar der augenfälligste, aber nicht der bedeutendste ist, bringt Belastungen mit sich. Wie heisst dieses Land eigentlich? Die Schweiz, la Suisse, la Svizzera, oder mit ihrem dreifachen offiziellen Namen die schweizerische Eidgenossenschaft, la Confédération helvétique, la Confederazione helvetica: die Schweizer Post hat sich aus der Schwierigkeit gezogen, indem sie auf die Briefmarken einen lateinischen Namen setzte, der allen drei Amts- und Landessprachen etwa gleich fern steht. Schweizer, die ihre Tätigkeit mit den verschiedenen Landesteilen in Verbindung bringt, Bundesbeamte, Politiker, Kaufleute, Lehrer, Angestellte oder Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz wechseln, behelfen sich mit aller Selbstverständlichkeit, fliessend oder holpernd, in der obligatorischen Zwei- oder Dreisprachigkeit. Man hat, nicht immer ohne Grund, viel über das schweizerische Amts- und Bundesdeutsch und ebensoviel über das Berner Français fédéral gespottet, und noch schwerer hat es die Sprache Dantes, die Muttersprache eines knappen Zwanzigstels unseres Volkes, oder gar das Romanische, diese isolierte Sprache einer kleinen Bergbevölkerung, oder vielmehr diese Gruppe von fünf alten Sprachen, deren jede von ein paar tausend Leuten gesprochen wird. Hindernisse, Missverständnisse, Schwierigkeiten und Vielgleisigkeiten im privaten und öffentlichen Getriebe: und doch finden wir uns damit ab, und alle Geschäfte der Regierung, Verwaltung und Wirtschaft, alle Debatten, die den lokalen Rahmen überschreiten, kurz, alles eigentlich Schweizerische hat sich auf diese sprachliche Vielfalt eingespielt, die zugleich eine Verschiedenartigkeit des Denkens und Empfindens ist; diese Komplikationen erscheinen nicht als Belastung, sondern als Bereicherung, die es sorgfältig zu bewahren gilt. Eine einheitliche und einförmige Schweiz hätte vor sich selbst ihre Daseinsberechtigung verloren.
Es wird oft vergessen oder übersehen, dass diese kulturelle und sprachliche Vielheit der Schweiz eine verhältnismässig junge Erscheinung ist. Die grundlegenden Traditionen dieses Landes und die ersten fünf Jahrhunderte seiner Geschichte sind beinahe ausschliesslich alemannisch, wie drei Viertel der Landesbevölkerung Deutschschweizer sind. Wie geschah es eigentlich, dass französisch und italienisch sprechende Bevölkerungen in den Bannkreis der Schweiz gerieten, und vor allem, dass sie, als sie zu wählen hatten – denn diese Wahl stand ihnen beim Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft und nochmals zur Zeit des Wiener Kongresses frei – sich dafür entschieden, Schweizer zu sein, ohne Furcht, in diesem zu drei Vierteln germanischen Staatsgebilde erdrückt zu werden?
Gewiss, eine grundlegende Bedingung musste dabei zum vornherein erfüllt sein: dass die politische Entscheidung, der Schweiz anzugehören, in keiner Weise die Freiheit beeinträchtigte, dem französischen oder italienischen Kulturkreis anzugehören: das heisst, dass die deutschschweizerische Mehrheit nie versuche, auch nicht und besonders nicht in den kleinen Dingen, den nichtalemannischen Mitbürgern ihr Gesetz, ihre Denk- und Lebensgewohnheiten aufzudrängen. Doch das Bemerkenswerte ist, dass diese Bedingung nie ausdrücklich festgelegt werden musste: sie schien sich immer von selbst zu verstehen. Sogar zu der Zeit, als eine Gruppe von deutschschweizerischen Kantonen über das Tessin herrschte und die Gnädigen Herren von Bern das Waadtland regierten, nahmen sie sich die Mühe, in der Sprache ihrer Untertanen zu regieren. Als die Heere des Direktoriums und Bonapartes ihre Freiheit auf den Bajonettspitzen brachten, wollten diese Untertanen wohl ihre Freiheit, d. h. ihre Selbstverwaltung haben, aber ihre Freiheit und Selbstverwaltung als Schweizer – «liberi e Svizzeri», wie es die Tessiner auf ihre Fahne schrieben –, keineswegs aber in ihren entsprechenden Nationen aufgehen; und das Wallis, Genf und Neuenburg, die Frankreich einverleibt worden waren, beeilten sich beim Zusammenbruch des napoleonischen Kaiserreiches, den Anschluss an die Schweiz zu finden. Hier geschah im Zeitpunkt der grössten Ohnmacht der Schweiz eine Art von Wunder, wohl das grösste der Schweizer Geschichte, dessen man sich zu wenig erinnert: denn dies ist das Geburtsdatum der modernen Schweiz, die wir zu oft mit der Schweiz von immer verwechseln, und daraus zieht sie seit anderthalb Jahrhunderten ihre Rechtfertigung.
Liegt das Geheimnis im Charakter dieses Volkes, das gegenüber fremden Bräuchen und Ideen weitherziger, toleranter und offener wäre als andere Völker der Welt? Gewiss nicht; wir wissen genug, dass eher das Gegenteil wahr ist, dass die Schweizer Geschichte sich weder durch Sanftmut noch Toleranz, noch Offenheit des Geistes auszeichnet, und noch heute sind diese Tugenden der Zivilisation bei uns nicht völlig heimisch geworden. Liegt die Erklärung in den Zufällen der Geschichte? Wenn Zufälle so systematisch und beharrlich auftreten, hören sie auf, Zufälle zu sein: Es ist das gleiche Grundelement der Schweiz und ihrer Geschichte, der widerborstige alemannische Partikularismus, der auch die Bedingungen des Zusammenlebens in der Vielsprachigkeit schuf. Die Schweiz, oder vielmehr dieses Bündnis der Täler und Städte, das sich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert in der alemannischen Schweiz bildete und ausdehnte, hat die germanische Tradition der Gemeindedemokratie gegen alle Vereinheitlichungsbestrebungen, die schliesslich in den deutschen Territorialstaaten den Sieg davontrugen, verteidigt und geschützt; sie ist das Widerstandsnest des Lokalpatriotismus geworden, der sich sprachlich in der Widerstandskraft der örtlichen Dialekte ausdrückt, wo sich ein Deutscher fast ebenso fremd vorkommt wie ein Italiener oder Spanier: Dieses Beharren auf dem Dialekt hatte noch zu gewissen Zeitpunkten unserer jüngsten Geschichte geradezu die Bedeutung einer politischen Abgrenzung. Im Gegensatz zum Französischen, das sich der Westschweizer genau so zu sprechen bemüht wie der Pariser, ist das Deutsche – das «Schriftdeutsche» oder «Hochdeutsche», wie es hier bezeichnenderweise heisst – in der deutschen Schweiz eine amtliche, beinahe gelehrte Sprache, die geschrieben, aber höchstens bei feierlichen Anlässen gesprochen wird und deren man sich im Alltagsleben nur mit einem gewissen Widerwillen bedient; wenn sich ein Fremder in Zürich, Bern oder erst recht in kleineren Ortschaften der deutschen Schweiz in französischer Sprache nach dem Weg erkundigt, wird man ihn vielleicht nicht besser verstehen, sich aber möglicherweise zuvorkommender um ihn bemühen, als wenn er sich in reinem «Hochdeutsch» ausdrückt. Es ist eine nicht immer rühmliche und manchmal törichte Haltung, in der Affekte aus ferner und naher Vergangenheit nachwirken: In verschiedenen Epochen ihrer Geschichte hatte sich die alemannische Schweiz mit aller Leidenschaft ihre Distanz gegenüber Deutschland und dem «Deutschtum» zu erkämpfen.
Dies ist einer der geheimen Ausgleichsmechanismen, die das numerische Übergewicht korrigieren und die Sprache der Minderheit jener der Mehrheit nicht nur gleichstellen, sondern ihr sogar eine gewisse Überlegenheit geben. Ein anderer ist das Gleichgewicht der Konfessionen. Die geschichtliche Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass in der französischen Schweiz drei protestantische und zwei katholische Kantone durcheinandergewürfelt sind – also etwa im gleichen Verhältnis wie in der deutschen Schweiz –, so dass die konfessionellen Solidaritäten und Affinitäten quer zu den linguistischen verlaufen. So gibt es auch eine konservative, liberale, sozialistische, nicht aber eine welsche oder eine deutschschweizerische Partei. Auf keinem Gebiet bilden die alemannische und die romanische Schweiz zwei solidarische Blöcke, die sich in geschlossener Front gegenüberstehen, wie etwa das wallonische und das flämische Belgien; nirgends bilden sich einfache Frontlinien, sondern stets nur ein buntes Mosaik, in dem sich alle sprachlichen, konfessionellen, regionalen, politischen Verschiedenheiten und die Vielfalt der Lebensweisen und Temperamente bis ins Unendliche kombinieren; es gibt nie eine Mehrheit und eine oder mehrere Minderheiten, sondern es gibt sozusagen nur Minderheiten, die sich gegenüber jeder neuen Frage auf unvoraussehbare Art zu Gelegenheitsmehrheiten zusammenfinden. Darum gilt die etwas einfältige, aber gebräuchliche Definition der Demokratie als der Regierungsform, in der die Mehrheit entscheidet und die Minderheit sich fügt, nicht für die Schweiz, denn die Schweiz würde sie nicht ertragen. Sie ist nicht eine Einheitsdemokratie, die dem Gesetz der Mehrheit untersteht, sondern eine Gemeinschaft von kleinen kantonalen und kommunalen Demokratien, deren jede ihre eigenen Geschäfte regelt und die häufiger durch Kompromiss als durch Mehrheitsentscheid nur jene Fragen gemeinsam entscheiden, die den lokalen Rahmen sprengen.
Denn, sagen wir es rund heraus: Die Schweiz ist in den lebendigen oder erstarrten Formen ihres Regierungssystems tatsächlich das archaischste Land des Westens, und gewisse Züge ihrer Mentalität und ihrer Einrichtungen wären vielleicht einem Kongolesen, dem sein Stamm oder Dorf die Welt ist, leichter verständlich als einem Nachbarn aus der Einen und Unteilbaren Französischen Republik; denn die Grundstrukturen dieses Landes gehen auf eine Zeit zurück, die den modernen Staatsbegriff noch nicht kannte. Das Bewusstsein historischer Kontinuität liegt mächtig über diesem kleinen Fleck Erde, und es ist eine schweizerische Unart, jedem, der nur zuhören will, bei jedem Anlass ihre alte Geschichte, ihre alten Geschichten, neu aufzutischen: Geschichten von Lokalbünden und Lokalfehden, Kriegszügen und Wirren, wie sie jedes andere Land in grauer Vorzeit auch kannte. Doch die Eigenart der Schweiz liegt nicht so sehr in diesen mittelalterlichen Anfängen ihrer Existenz als vielmehr darin, dass die alten Grundformen den Umwälzungen der modernen Zeit standhielten und biegsam genug waren, um sich den neuen Erfordernissen anzupassen. Die Ursprünge der Schweiz sind ein Teil einer Bewegung, die damals ganz Mittel- und Westeuropa umfasste, die Befreiungsbewegung der Stadt- und Landgemeinden, die überall ihre Autonomie von den weltlichen und geistlichen Herren erkauften, erlisteten oder erkämpften und sich miteinander verbündeten, um ihre Freiheiten gegen die Fürsten zu verteidigen. Freiheiten, in der Mehrzahl und nicht in der Einzahl, kommunale und partikularistische, nicht individuelle und egalitäre, nicht die Freiheit als allgemeines Menschenrecht, sondern Freiheiten als erworbene oder erkämpfte Privilegien kleiner Gemeinschaften, die darauf beharrten, ihre eigenen Geschäfte selbst zu führen, unter ihren eigenen Gesetzen zu leben, sich ihre eigenen Richter zu geben und sich ihre eigene Disziplin aufzuerlegen: kurz, dieser ursprüngliche, primitive Freiheitsbegriff, der in der lapidaren Forderung des ersten Bundesbriefes der drei Urkantone zum Ausdruck kommt: Wir wollen keine fremden Richter haben; anders ausgedrückt: Es soll sich niemand in unsere Angelegenheiten einmischen. Wenn damals die Schweiz eine Eigenart aufwies, dann diese, dass diese Bewegung ihre elementare Kraft nicht in den Städten schöpfte, wie in Deutschland und Italien, sondern in den Alpgemeinden, denen die Berge als befestigte Stadtmauer dienten und deren politische Einrichtungen mit der alpwirtschaftlichen Genossenschaft identisch waren: dieselbe Frühlingsversammlung, die in jedem Tal ohnehin zusammentreten musste, um den Zeitpunkt des Alpaufzugs festzulegen, die Hirten zu bestimmen, die gemeinsame Wiederherstellung der durch den Winter zerstörten Wege, Brücken und Verbauungen zu organisieren, wählte auch die politischen Führer, ernannte die Richter und entschied, wenn es nötig war, über Krieg und Frieden. Diese Berggemeinden sind es, denen die schweizerischen Bünde ihre uneinnehmbare Rückzugstellung und ihre gefürchtete militärische Stärke verdankten, an der die Miliztruppen der voralpinen Städte Rückhalt fanden, während überall sonst die zerstreute kommunale Bewegung früher oder später den fürstlichen Heeren unterlag. Hundert Jahre nach dem ersten Bund der drei Orte trug die Liga der freien Länder und Städte der Eidgenossenschaft ihre entscheidenden und endgültigen Siege über die Feudalheere davon, im gleichen Zeitpunkt, in dem – 1388 – ihre Verbündeten jenseits des Rheins, die süddeutschen Städte, vom Fürstenbund geschlagen wurden und ihre Liga sich auflösen musste. Von diesem Datum an trennten sich die Wege der Schweiz und Deutschlands, obschon die formale Trennung erst viel später erfolgte. Die Schweiz blieb fortan das Rückzugsgebiet der partikularistischen Gemeindefreiheit in einem Europa, wo überall sonst die Zukunft dem zentralistischen Territorialstaat gehörte.
Gehen wir rasch über den Rest dieser oft gewalttätigen und anarchischen Geschichte und über die Jahrhunderte der Erstarrung hinweg, obwohl alle ihre Episoden das Gesicht dieses Landes dauernd geprägt haben: Höhepunkt der militärischen Macht, in der sich zugleich die politische Ohnmacht dieser Allianz auseinanderstrebender Partikularismen erwies; Rückzug in die Defensive und in die Neutralität «in fremden Händeln» als einzige mögliche gemeinsame Haltung, dank der die Eidgenossenschaft sogar die religiöse Spaltung überlebte; Erstarrung des städtischen Bürgertums, das durch die Weigerung, neue Bürger aufzunehmen, zur Oligarchie wurde; Korruption der Söldnerkantone; Zwietracht, Zusammenbruch und Umsturz, hervorgerufen durch die revolutionäre Invasion aus Frankreich, die den grausamen und zugleich heilsamen Anstoss zu einem neuen Beginn gab. Doch dies ist der Schlüssel zum Verständnis dieses Landes: durch alle Wechselfälle hindurch ist die Schweiz dieser Bund unabhängiger Gemeinden geblieben, die nur dann und erst dann gewisse Vollmachten einer gemeinsamen Bundesexekutive übertrugen, wenn es offensichtlich war, dass das Wesentliche der Gemeindeautonomie auf keine andere Art bewahrt werden konnte. Der Bundesstaat, das ist in erster Linie die gemeinsame Diplomatie, die gemeinsame Verteidigung und die bis vor kurzem sparsam dotierte gemeinsame Kasse, die zur Unterstützung der Autonomie aller Teilhaber eingerichtet wurden. So hat die Schweiz ihre Staatsform gegen den Strom der allgemeinen europäischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte ausgebaut; indem sie das Wesentliche ihrer mittelalterlichen Strukturenbewahrte, hat sie weder den zentralisierten und einheitlich verwalteten Territorialstaat noch die Lehre von der einen und unteilbaren Souveränität gekannt, die in den absoluten Monarchien den Weg zur einheitsstaatlichen und egalitären Demokratie geebnet hat; sie hat infolgedessen auch die Identifizierung von Staat und Nation nicht gekannt, und sie durchschritt das Zeitalter des Nationalismus – die Epoche, vor deren Ruinen das heutige Europa steht – nicht nur ohne daran teilzunehmen, sondern indem sie ihm ständig die Herausforderung ihres multinationalen und pluralistischen Bundesstaates entgegensetzte. Durch ihr blosses Bestehen, durch die Demonstration des freien Zusammenlebens freiwillig zusammengeschlossener Gemeinschaften war die Schweiz die Verneinung all dessen, was man als die unentrinnbare geschichtliche Entwicklung zur Zusammenballung grosser organisierter Massen betrachtete, und der beharrliche Beweis dafür, dass sich die Menschen selbst regieren können, ohne unter das Joch ihres Regierungsapparates zu fallen.
Wer nun versucht, dieses systemfeindliche Regierungssystem zu definieren, spürt bei jedem Schritt die Trägheit der Geschichte, denn es brauchte Jahrhunderte, um sich einzuspielen, und er stösst wieder auf eine sprachliche Schwierigkeit, die sogar zwischen Schweizern verschiedener Sprache besteht, denn nichts ist einfach in diesem Land. Wenn die Deutschschweizer mit einer gewissen Feierlichkeit von ihrem Staat sprechen, nennen sie ihn: die Eidgenossenschaft; in der Umgangssprache heisst er kurzweg: der Bund; und beide Begriffe wechseln mit ähnlichen Schattierungen auch in den Artikeln der Verfassung, in den Gesetzen und offiziellen Kundgebungen ab. Der Begriff der Eidgenossenschaft mit seiner feierlichen religiösen Bedeutung eines durch unwiderruflichen und unauflöslichen Eid bekräftigten Bundes stammt aus der ältesten Verdeutschung des Bundesbriefes von 1291, in dem sich die Männer der drei Urkantone «coniurati», die Verschworenen, nennen. Kein anderer moderner Staat definiert sich so, und es ist völlig unmöglich, diese Begriffe in die internationale Rechtssprache zu übersetzen; sogar für einen Deutschen erinnern sie bestenfalls an anarchische Zeiten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Paradoxerweise besitzen das Französische und Italienische, diese juristisch präzisen Sprachen, und also auch Schweizer französischer und italienischer Zunge keine entsprechenden Ausdrücke, was ein Quell von Missverständnissen ist, die um so verwirrender sind, als sie kaum bemerkt werden; die Eidgenossenschaft heisst für sie la Confédération, ein Ausdruck der juristischen Fachsprache, der weder die Volkstümlichkeit noch die beinahe mystische Beschwörungskraft von Eidgenossenschaft besitzt, aber auch la fédération und manchmal, bei historischen Anlässen, l’alliance helvétique; der französische Text der Bundesverfassung trägt den Titel: Constitution fédérale (!) de la Confédération (!) hélvétique, und ihr Artikel eins, dessen deutsche Fassung schon zitiert wurde, definiert den Bundesstaat als la présente alliance des peuples des vingtdeux cantons souverains de la Suisse.
Ein Fachmann des Staats- und Völkerrechts müsste sich angesichts einer solchen juristischen Konfusion die Haare raufen. Aber die Schweiz ist kein Vernunftsgebilde; sie lässt sich nur historisch definieren. Diese augenscheinliche Verwirrung ist das Abbild ihrer langen Geschichte, deren verschiedene Epochen – loses Geflecht von Einzelbünden, einheitlicher Staatenbund, Bundesstaat unter einer gemeinsamen Bundesbehörde – aufeinander folgten, ohne dass je die Gegenwart die Vergangenheit aufgehoben hätte: Alle alten Formen bleiben in der neuen bestehen. In der schweizerischen Mentalität, in der ungeschriebenen Tradition und sogar in der Verfassung und den gegenwärtigen Institutionen ist die Schweiz im Grunde noch immer dieses Verteidigungsbündnis von partikularistischen kleinen, zum Teil winzigen Gemeinschaften, die nicht beabsichtigten, sich zu einem Staat zu verschmelzen, sondern nur gemeinsam die Selbständigkeit jeder einzelnen zu verteidigen; und wenn die Erfordernisse der modernen Zeit, die Dimensionen und der soziologische Schmelztiegel der modernen Wirtschaft und auch die lange Gewohnheit des Zusammenlebens dieses Bündnis in der Entwicklung von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat allmählich so eng gestaltet, dass es einem dezentralisierten Einheitsstaat gleicht, so würde sie nichtsdestoweniger ihren Daseinsgrund an dem Tag verlieren, an dem sie ihren Gliedern im Namen der Mehrheit oder der Nützlichkeit eine einheitliche Kommandogewalt auferlegen würde.
Die wenigen Ausländer, die sich die Mühe genommen haben, dieses Staatswesen und seine Einrichtungen und deren Funktionsweise näher zu untersuchen, waren immer erstaunt über ihren Archaismus, ja ihren Anachronismus in der modernen Welt – «modern» im weitesten Sinn des Wortes, denn schon vor 250 Jahren erklärte ein englischer Gesandter, Stanyan, in einem 1713 veröffentlichten Buch, dass die Schweiz sich in keine Kategorie der modernen Staatsformen einfügen lasse. Die Schweiz, ein Bund autonomer Gemeinden: nichts Erstaunlicheres für einen Ausländer, als zu erfahren, dass es genau genommen kein Schweizer Bürgerrecht gibt, dass man im eigentlichen Sinne des Wortes nicht als Schweizer, sondern als Bürger von Thun, Pompaples oder Valpaschün geboren wird und dass einzig dieses Gemeindebürgerrecht das Bürgerrecht des Kantons Bern, Waadt oder Graubünden und damit auch das Schweizer Bürgerrecht verleiht. Es ist ein oft bestauntes und oft belächeltes Kuriosum, wie diese schweizerische Demokratie funktioniert, und zwar am eindrücklichsten ausserhalb der grossen Städte, wo sich ihre Wesenszüge in der Anonymität der Menge etwas verwischen: diese Kaskade von Volksabstimmungen, die jeden Sonntag die Einwohner ungezählter Gemeinden zu den Urnen rufen, um ihre Beamten zu wählen, Gemeindeausgaben gutzuheissen, über das Projekt eines Strassen- oder Schulhausbaus zu bestimmen; dann, nach den Gemeindeangelegenheiten, die kantonalen und schliesslich, in etwas grösseren Abständen, wie grosse Wellen an der Oberfläche eines in den Tiefen ständig bewegten Wassers, die gesamtschweizerischen Wahlen und Abstimmungen; all diese Urnengänge sind nur modernisierte und ihrer pittoresken Anschaulichkeit beraubte Abwandlungen des Urbildes, das sich fast unverändert in einigen der kleinsten Kantone erhalten hat, in denen das souveräne Volk im Sinne Rousseaus noch leibhaftig in physischer Versammlung zusammentritt, um höchstpersönlich seine Gesetze und seinen Haushalt zu diskutieren und seine Behörden zu ernennen.
Wer etwa denken möchte, dass dies vielleicht nur fromm bewahrte alte Formen sind, die nur noch den Wert einer touristischen Sehenswürdigkeit besitzen, der möge sich einmal, wenn er dieses kleine Land durchreist, die Auswirkungen dieser lokalen Demokratie vor Augen führen. Das einfachste Beispiel ist das Eisenbahnnetz, das dichteste der Welt, das sich um den Preis schwerer Belastungen und hoher Betriebskosten den Wünschen der kleinsten Gemeinde, des entferntesten Tales beugen musste, auch wo es dem Gesetz der Rentabilität widersprach; dieses Verkehrsnetz ist das Resultat erbitterter politischer Kämpfe, jener «Volksbahnbewegung», die im vergangenen Jahrhundert die kleinen schweizerischen Gemeinden gegen die zentralistischen Pläne der grossen Städte, Winterthur gegen Zürich, Yverdon gegen Lausanne, Le Locle gegen Neuenburg in Bewegung brachte. Vergleichen wir dieses Eisenbahnnetz mit dem Frankreichs, wo mit bewundernswerter geometrischer Regelmässigkeit alles von Paris ausgeht und dort endet und wo die guten Verbindungen mit der Hauptstadt über das Wohlergehen oder den Untergang, das Leben oder den Tod ganzer Gegenden entschieden haben: Das ist der Unterschied zwischen einem zentralistischen und einem föderalistischen Staat. Und vergleichen wir dann die Eisenbahnkarte, die am einfachsten zu lesen ist, mit jener der wirtschaftlichen Tätigkeit und der Bevölkerungsbewegungen. Diese Streuung der Industrien über die ganze Schweiz bis in die scheinbar abgelegensten Gegenden, die Ansiedelung von Unternehmungen von internationaler Bedeutung in kleinen Landstädtchen, auf denen die Festigkeit und das Gleichgewicht des sozialen Aufbaus diese Landes beruhte und die ihm die schrecklichen Industriekonzentrationen des 19. Jahrhunderts mit ihren Elendsvierteln und ihrem entwurzelten Proletariat erspart haben, stehen in enger Beziehung mit dem politischen Regime, mit dieser Kraft der lokalen Demokratie, die den Gemeinden und Regionen erlaubte, sich dem unmenschlichen wirtschaftlichen Rationalitätsprinzip zu widersetzen.
Gewiss, alles muss bezahlt werden, und jeder Vorzug hat seine Kehrseite: Für den, der die Länder nach ihren Hauptstädten vergleicht, fehlt es der Schweiz an einem glanz- und prunkvollen Mittelpunkt, denn sie besitzt keine imposante Hauptstadt, aber dafür weist sie auch keine vergessenen, blutarmen und verschlafenen Provinzen auf; sie ist ein Land, dessen Leben sich nicht auf einen bevorzugten Ort konzentriert, sondern den ganzen Körper durchströmt. Der Gewinn wiegt den Verlust reichlich auf.
Diese Erfolge sind um so erstaunlicher, als sie geradezu Erfolge wider die «Natur der Dinge» sind, denn die Natur hat die Schweiz mit nichts ausser mit Steinen und Wasser grosszügig beschenkt: Sie hat ihr einen zumeist kargen und zu einem Drittel unfruchtbaren Boden, keine Bodenschätze, keine Rohstoffe und keinen Zugang zum Meer gegeben. Ein von Natur armes Land, das nicht immer Uhren, Präzisionsapparate, Patente und Ingenieure, sondern jahrhundertelang Söldner und Stallknechte exportierte; bevor die Schweiz zu einem Einwanderungsland für fremde Arbeitskräfte wurde, war sie während ihrer langen Geschichte ein Auswanderungsland, dessen Söhne ihr Brot anderswo verdienen mussten. Auch hier trägt unsere Verfassung, die aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammt, Spuren einer noch nicht lange verschwundenen Armut: Die Bestimmungen über Armenrecht und Armengenössigkeit nehmen darin einen Raum ein, den wir heute nicht mehr recht begreifen, und wieder waren es Heimatkanton und Heimatgemeinde, die ihrem ins Unglück geratenen Bürger, wenn er überall sonst abgeschoben wurde, die letzte Zuflucht bieten mussten: Die Solidarität in der Not war die Nabelschnur, die ihn mit seiner kleinsten Heimat verband, und geradezu der Inhalt des Gemeindebürgerrechts. Heute gilt die Schweiz als reich, und zweifellos ist sie wohlhabend; doch dieser Wohlstand wurde schwer erkauft, Krume um Krume, von einer Generation zur andern, durch harte und gewissenhafte Arbeit und sparsame Anwendung der beschränkten Mittel, und auch hieran hat das politische Gefüge mitgewirkt. Denn dieses Haushalten mit den materiellen und menschlichen Hilfskräften ist nicht das Kennzeichen der grossen merkantilistischen oder planwirtschaftlichen Staatsverwaltungen, durch deren Hände die grossen Budgetmassen eines zentralisierten Staates gehen: Es ist ein Charakterzug der kleinen Gemeinschaften, die um ihr Bestehen kämpfen und sich mit dem Erfolg eines Unternehmens, an dem Wohl und Wehe ihrer Einwohner hängen, solidarisch wissen – eine Solidarität, die etwa in einer Uhrmachergemeinde des Jura oder einer Baumwolldruckergemeinde des Glarnerlandes die sozialen Spannungen stets auf eigenartige Weise abgeschwächt hat. Dieses konkrete, geradezu physische Bewusstsein des gemeinsamen Interesses, der geteilten Verantwortung, die Sorge um die öffentlichen Gelder und den öffentlichen Besitz sind Eigenschaften, die sich in der anonymen Verwaltung eines grossen Staatsapparates oder gar in der unpersönlichen Masse der grossen Industriezentren schwerlich entwickeln; doch wenn die Bürger einer kleinen oder mittelgrossen Gemeinde über ihre Steuern und Ausgaben beraten, bleibt sich jeder bewusst, dass es sich um seine eigene Angelegenheit handelt.
Diese Tradition und die Mentalität, die daraus entstanden ist, hat gewiss ihre Schattenseiten: Es gibt eine gewisse schweizerische Kleinlichkeit, einen Kult des unmittelbar Nützlichen und Rentablen, einen aller Phantasie feindlichen sozialen Konformismus, die dieses Land für die Künste und Grazien ungastlich gemacht haben. Der Generation, die durch die Nöte der dreissiger Jahre gegangen ist, spürt man noch an, wie schwierig und hart erworben damals alles war, in einem internationalen Konkurrenzkampf, in dem dieses kleine Land ohne eigene Hilfsquellen und ohne einen grossen geschützten Markt den mit der ganzen Rüstung des modernen Protektionismus bewaffneten Riesen gegenübertreten musste. All das scheint heute der Vergangenheit anzugehören, und die Schweiz prosperiert dank ihren langsam erworbenen Positionen, ihrem angesammelten Kapital, einer seit langem eingespielten Technik, einem soliden Ruf für gute Qualität, dank ihren Patenten und den weltweiten Verzweigungen ihrer grossen Gesellschaften mit ihren Zweigniederlassungen und internationalen Kapitalanlagen. Gut und schön; doch ist es nicht nur Atavismus, wenn heute manche Schweizer in der üppig wuchernden Konjunktur oft ein unheimliches Gefühl beschleicht, dass es ihnen zu leicht und zu gut gehe; es wird keiner Generation lange erlaubt sein, zu vergessen, dass nichts zerbrechlicher ist als ererbte Positionen, die man nicht stets durch eine neue Leistung neu gewinnt, und dass die schweizerische Wirtschaft ein Sieg gegen die Natur ist, der ihr nie gestatten wird, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen – sie würden bald verdorren.
Habe ich zu sehr das Lob der Schweiz gesungen? Ich habe in grossen Zügen zu erklären versucht, wie, aus welchen Traditionen und Anstrengungen dieses Land entstanden ist; ich habe versucht klarzumachen, wie sich die Schweiz selbst sieht, was für den wesentlich ist, der sie verstehen will. Aber sieht sie sich wirklich so, wie sie ist? Dies ist eine andere Frage, und nicht nur der Ausländer, sondern auch der kritische Schweizer hat manchmal den Eindruck, dass wir von einer Vergangenheit zehren, die nicht mehr ganz lebendig ist, dass wir uns von unserem Land eine Idee oder besser gesagt eine Ideologie oder einen Mythos gemacht haben und die Augen schliessen, um nicht zu sehen, wie anders die Wirklichkeit heute ist. Die Demokratie nach Rousseau, diese Versammlung von freien und bewaffneten Männern, in der sich die Meinungen mit offenem Visier gegenübertreten, in der die Abstimmung durch Erheben der Hand verlangt, dass man den Mut besitzt, zu seiner Überzeugung zu stehen, sie liegt noch immer, bewusst oder unbewusst, unserer Auffassung der Demokratie zugrunde, und die grossen siegreichen Kämpfe um die direkte Demokratie waren noch im letzten Jahrhundert wirkliche Wellen von Versammlungen freier Männer unter freiem Himmel, die über das Land hinwegrollten. Aber wo ausser in den alten Landgemeindekantonen besteht diese Wirklichkeit noch? Es ist oft wunderlich und oft belustigend zu hören, wie Deutschschweizer, die in keiner Weise an die Stauffacher und Winkelried der Heldenzeit erinnern, dieses sentimentale Argument gegen das Frauenstimmrecht vorbringen. Die Schweiz, ein Bund freier Gemeinden, die ihre eigenen Angelegenheiten unter eigener Verantwortung regeln? Wir halten an dieser Auffassung fest, und wir wissen, dass sie in vielen Gegenden der Schweiz ihre Lebenskraft bewahrt, doch es sind leider nicht die Gegenden, die an der Spitze der Entwicklung stehen. Was wird aus dieser Selbstverwaltung und Selbstverantwortung der autonomen Gemeinde in einer Stadt wie Zürich, Genf oder Basel, wo die eingesessenen und über die Angelegenheiten der eigenen Stadt unterrichteten Bürger schon in der Minderheit sind und wo ein gutes Drittel der Stimmberechtigten Zugvögel sind, die sich noch nicht zwei Jahre in der Stadt aufhalten? Die Zahl derer wächst und wird bald überwiegen, die ihr Beruf, ihre Wanderlust oder der Zufall der Wohnungssuche in wildfremde Wohngemeinden verschlägt, wo sie dann in regelmässigen Zeitabständen an die Urne gerufen werden, um die Lehrer einer Primarschule oder einen Richter für ein Bezirksgericht zu wählen oder um eine Strassenverbesserung gutzuheissen, und denen sowohl die vorgeschlagenen Namen sowie das Pro und Kontra der Verbesserung meist ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Und was wird aus dem Gemeindeleben, der Gemeindeautonomie und der Gemeindesolidarität im Einzugsgebiet der grossen Städte mit ihren Übernachtungsgemeinden, deren Einwohner am Wohnort nur noch ihre Schlafstätte haben, während der Ort ihrer Arbeit, ihrer Einkäufe, ihres Bekanntenkreises und ihrer Freizeit die nahe Stadt ist?
Trotz dem kräftigen Widerstand des inneren Gefüges und dem innern Gleichgewicht der Regionen nimmt der Einschmelzungsprozess der industriellen Gesellschaft seinen Lauf, und die Wohngemeinde und erst recht die Bürger- oder Heimatgemeinde ist immer weniger der lebendige Rahmen, in dem sich das soziale Leben abspielt. Wenn heute in der Tagespolitik von den ererbten kantonalen und kommunalen Autonomien die Rede ist, dann wird meist nicht ihrer Ehrwürdigkeit gedacht, sondern der fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die sie jeder Landesplanung entgegenstellen. Und tatsächlich ergibt sich, wenn die Überbauung und Industrialisierung des Landes weiterhin den Zufällen zerstreuter lokaler Entscheidungen überlassen wird, die schauerliche Aussicht, dass sich in zehn oder fünfzehn Jahren eine ununterbrochene Stadt- und Vorstadteinöde zwischen Alpen und Jura, vom Bodensee bis zum Genfer See hinziehen wird, in der keine Landschaft unberührt, kein Gewässer unverschmutzt, kein Raum zum Atmen unverpestet und kein Stück Natur verschont geblieben ist: so kann der lokale Partikularismus schliesslich seinen eigenen unentbehrlichen Lebensraum zerstören. Und kaum jemand findet sich noch in den künstlerischen Labyrinthen zurecht, in die sich die helvetische Landwirtschaftspolitik verstrickt hat, um dennoch mit Subventionen, Garantien, Handelsschranken und erhöhten Lebenskosten ein Stück Bauernland und Bauernvolk zu retten – ein Stück dessen, was einst die störrische Widerstandskraft dieses Landes, aber auch die Heimat schlechthin ausmachte. Es ist, von einigen Abweichungen der Akzentsetzung und der Methoden abgesehen, das gleiche Nachhutsgefecht, das in allen Ländern des Westens geführt wird; doch das Unwohlsein im industriellen Wachstum und im Wirtschaftswunder, das nicht nur literarisch und romantisch bleibt, sondern in aktiven Abwehr- und Bremsversuchen zum Ausdruck kommt, macht die Schweiz nochmals zum Einzelfall.
Dennoch beginnt überall der traditionelle Rahmen des bürgerlichen Lebens in Zersetzung überzugehen. Wenn wir Basel überfliegen, sehen wir aus der Luft das Bild einer Stadt, die sich nach allen Richtungen ausdehnt, nach Frankreich, Deutschland und auch in die benachbarten Kantone; suchen wir dann den souveränen Kanton Basel-Stadt mit seinem souveränen Volk: dieser stolze Stadtstaat ist nur noch ein zentral gelegenes Viertel einer städtischen Agglomeration, die überall ihre Grenzen und sogar jene der Schweiz überschreitet. Die Ausmasse der schweizerischen «Polypenstädte» mögen dem Besucher aus New York, London oder Paris als bescheiden erscheinen; für den politischen Rahmen der Schweiz sind sie längst überdimensioniert. Die schweizerische Wirtschaft blüht, und sie blüht nur zu sehr für ihren traditionellen Lebensstil; um ihren Aufträgen genügen zu können, muss sie fremde Arbeitskräfte zuziehen, die bereits mehr als ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen, und wir beginnen uns zu fragen, ob sich die damit entstehende wirtschaftliche Abhängigkeit auf die Dauer mit unserem politischen Isolationismus vereinbaren lässt. In einer Zeit, in der nirgends mehr der Arbeitgeber der «Herr im Hause» ist, ist es gefährlich, zur Arbeitgebernation zu werden. Wir diskutieren besorgt die Haltung, die wir gegenüber der wirtschaftlichen Integration Europas einnehmen sollen, die für viele Schweizer zu einem Alpdruck geworden ist; und während wir darüber diskutieren, als ob es sich um eine Sache handelte, die wir nehmen oder zurückweisen können, vollzieht sich diese Integration Tag für Tag, unmerklich und unaufhaltsam, und sie lässt sich nicht dadurch rückgängig machen, dass wir uns weigern, an ihrer Organisation teilzunehmen. Es scheint, dass wir mit uns selbst uneinig sind und dass unser Wille, im wirtschaftlichen Wettlauf mitzugehen, uns ständig in Widerspruch zu unserem politischen Willen bringt, das zu bleiben, was wir sind – oder vielmehr, was wir waren. Politische und wirtschaftliche Strukturen sind nicht voneinander zu trennen. Wir brauchen nur ein wenig auf die täglichen Gespräche rund um uns zu hören, um zu vernehmen, dass die so gut eingespielten, bewährten, ausgeglichenen und so herrlich komplizierten Mechanismen unserer Demokratie da und dort leer zu laufen beginnen. Wir werden all die Gemeinplätze hören, dass der gute alte Geist verschwinde, dass das Gemeindeleben langsam einschläft oder abstirbt, dass die Berufsverbände den politischen Parteien den Rang ablaufen, dass der Föderalismus den Versuchungen einer zu gut gefüllten Bundeskasse erliegt, dass das Interesse der Jugend an den öffentlichen Angelegenheiten abnimmt, dass der Bürger vor der unaufhörlichen Flut der Gesetzesabstimmungen zu streiken beginnt. Tatsächlich sind die Berufssolidaritäten stärker geworden als die lokalen oder regionalen; die Gemeinde ist nicht mehr unbedingt der umfassende Rahmen des tätigen Lebens, und sie bildet immer seltener ein organisches Ganzes; der Kanton vermag das wirtschaftliche und soziale Leben, das seine Grenzen überschreitet, nicht mehr zu regeln und zu koordinieren; die langwierige und feierliche Prozedur der Gesetzgebung und ihrer Kontrolle durch das Volk wurde für eine Zeit geschaffen, in der die Gesetze selten, grundlegend und zur Dauer bestimmt waren, während der Staat heute alles reglementiert, für alles Vorsorge trifft und täglich zentnerweise Gesetze ausstösst, nicht um dauerhafte Regeln für das Leben der Gesellschaft aufzustellen, sondern um durch kurzfristige Verordnungen, die eines weniger schwerfälligen und feierlichen Gesetzgebungssystems bedürften, von Tag zu Tag einen unablässigen Entwicklungsprozess zu lenken oder doch zu korrigieren.
Ich will nicht schwarz malen. Trotz allem ist der Unterbau noch tragfähig, die staatlichen Einrichtungen funktionieren, und die Eidgenossenschaft verwirklicht noch immer das Wunder, das zu vereinigen, was sich überall sonst auszuschliessen scheint: Tatsächlich und frei geübte Volkssouveränität und wirksame Regierung, Einheit des Staates und Freiheit der Einzelnen und der Gemeinschaften, aus denen er sich zusammensetzt, Mitverantwortung aller an der Res publica, der gemeinsamen Sache, und freie Zugehörigkeit eines jeden zu seiner eigenen kulturellen oder religiösen Gemeinschaft, die ihn mit andern Völkern verbindet; kurz, das Zusammenhalten des Ganzen in der Vielfalt der Teile. Aber ein Land, das lebt, ist ein Land, das sich wandelt; die staatlichen Einrichtungen, vor allem solche, die so stark im Boden verankert sind, wandeln sich immer langsamer als das Leben: Aus diesem Zurückbleiben der Institutionen hinter der lebendigen Wirklichkeit entstehen jene Krisen, die man Wachstumskrisen nennen könnte. Teilweise überholte und manchmal widersinnige Kompetenzverteilung zwischen Gemeinden, Kantonen und Eidgenossenschaft; fehlende Abgrenzung der Bereiche von Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltungsakten, die eine Inflation von Volksabstimmungen über nebensächliche oder nichtige Fragen hervorruft; unklare Rolle und Verantwortung der Berufsorganisationen im öffentlichen Leben: Jedermann spürt mehr oder weniger deutlich, dass all dies einer neuen Überprüfung bedarf und dass ein dauerndes Durchwursteln ohne neue grundsätzliche Entscheidungen schliesslich in eine Krise der Institutionen führt. Eine Krise, die sich mit einer noch schwerwiegenderen verbinden könnte, nämlich derjenigen unserer Beziehungen mit der in voller Wandlung begriffenen Aussenwelt, um neue Lösungen zu erzwingen.
Diese Krise hat sich bis dahin mehr in den Köpfen als in der Wirklichkeit abgespielt, und sie lässt sich nicht leicht umschreiben, weil sie an die Grundvorstellungen rührt, die wir uns von uns selbst und von unserer Rolle in der Welt machen. Ich habe zu zeigen versucht, dass sich die grundlegenden Züge der Schweiz in einer Geschichte ausgeprägt haben, die gegen den Strom der gesamteuropäischen verlief, und dass die Schweiz als Rückzugsgebiet der alten kommunalen und lokalen Freiheiten, die sie ausbaute und modernisierte, ohne sie je aufzugeben, die Jahrhunderte des Absolutismus, des Einheitsstaates und des Nationalismus durchlaufen hat, ohne daran teilzunehmen. Ich glaube immer noch, dass wir uns, alles wohl erwogen, nur dazu beglückwünschen können; doch zweifellos hat uns dies auch gezeichnet. Es hat uns vor allem geprägt während jenes Triumphzugs eines frenetischen und blutrünstigen Rassennationalismus, der im grossen Weltkrieg endete. Während jener Jahre, in denen die Schweiz einer verlorenen Insel im teutonischen Meer glich, hat sie sich so stark auf sich selbst zurückgezogen und mit einer derartigen Inbrunst nur an die Werte ihrer eigenen Geschichte geklammert, dass es ihr noch nicht ganz gelungen ist, wieder aus dieser Igelstellung herauszugelangen. Doch sie fühlt sich darin nicht recht wohl, denn sie hatte immer eine grössere Vorstellung von ihrer Rolle als die der blossen Selbsterhaltung.
Bis vor noch recht kurzer Zeit – bis zur Zeit des Völkerbundes zum mindesten – betrachtete man uns und betrachteten wir uns gern selbst als ein Miniaturmodell einer zukünftigen Völkergemeinschaft, als das lebende Vorbild dafür, wie deutsche, französische und italienische Bevölkerungen in einem einzigen Staat ver- träglich zusammenleben konnten, und man fragte nach unserem Rezept. Freilich besassen wir kein Rezept, wir hatten nur unsere Geschichte zu erzählen, eine so regelwidrige Geschichte, dass unsere Nachbarn, die ja ihre eigene Geschichte nicht nach anderem Muster von vorn beginnen konnten, wenig damit anzufangen vermochten. Inzwischen denkt niemand mehr daran, uns nach unserem Rezept zu fragen, und wir sind darüber ein wenig enttäuscht: wir beginnen uns sogar etwas einsam zu fühlen, in unsere eigene Geschichte und in unsere allzu lebendige Vergangenheit eingeschlossen, während um uns herum Europa seine tote Vergangenheit abzuwälzen und neue Wege zur Einheit zu finden sucht. Bei dieser Suche aber stand die Schweiz fast verärgert abseits. Vor bald hundertfünfzig Jahren proklamierte der Wiener Kongress, auf dem die Mächte das europäische Gleichgewicht wiederherstellten, dass die Unversehrtheit der Eidgenossenschaft im Mittelpunkt dieses Gleichgewichts im Interesse ganz Europas liege; heute, da Europa nicht mehr ein Gleichgewicht der Mächte, sondern eine amputierte und bedrohte Halbinsel ist, die ihr Heil in der Einheit sucht, scheinen wir uns hinter einer traditionellen Neutralität zu verschanzen, die sich auf eine gar nicht mehr bestehende historische Konfliktsituation bezog, fast als müsste Europa gespalten bleiben, damit die Schweiz darin neutral bleiben kann. Denn die Frage, in welchem internationalen Konflikt und zwischen welchen Parteien er und sein Land denn eigentlich neutral seien, vermag heute den mittleren Schweizer Bürger in grosse Verlegenheit zu stürzen, als hätte er noch gar nie darüber nachgedacht. Es genügt, seinen Kommentaren zur Weltpolitik zuzuhören oder einen Blick in eine der zahlreichen grossen und kleinen Schweizer Zeitungen zu werfen, um festzustellen, dass dieses neutrale Land das am wenigsten neutralistisch gesinnte Land der Welt ist und dass seine öffentliche Meinung mit grosser Einmütigkeit in leidenschaftlichen Beifalls- und Pfuirufen zu den grundlegenden Konflikten der Gegenwart Partei nimmt – wäre es auch mit der Einmütigkeit eines Schauspielpublikums, das ganz und gar auf der Seite der Guten ist, aber nicht daran denkt, in die Handlung einzugreifen.
Es wäre leicht, weiter solche Paradoxe aufzureihen und das «europäische Missbehagen» der Eidgenossen einer Psychoanalyse zu unterwerfen. Versuchen wir lieber, die innere Logik der aussenpolitischen Enthaltsamkeit zu begreifen, die nicht weniger streng und anspruchsvoll ist als die des aktiven Mittuns. Am Ende des Ersten Weltkriegs nahm die Schweiz nach einer leidenschaftlich ausgefochtenen und mit knapper Mehrheit entschiedenen Volksabstimmung gewisse Einschränkungen ihrer Neutralität auf sich, um dem Völkerbund beizutreten, und beugte sich damit dem scheinbar unwiderleglichen Argument, dass in einer zur Erhaltung des Friedens geeinten Welt die alte, unbedingte Neutralität keine moralische Rechtfertigung mehr besitze. Das Experiment verlief enttäuschend: Der Völkerbund war und blieb ein Klub der Sieger – und zwar von Anbeginn unter sich entzweiter Sieger – für die Aufrechterhaltung einer internationalen Rechtsordnung, die weder auf eindeutig überlegener Macht noch auf Gerechtigkeit beruhte, sondern halbwegs zwischen beiden in der Luft hing und in Wahrheit ein blosser Waffenstillstand war. Die Schweiz hatte keinen Teil und keine Verantwortung an der Errichtung dieser Ordnung, und sie war weder beteiligt noch mitverantwortlich an ihrer Zerstörung; weder ihre Teilnahme noch ihre Enthaltung konnten etwas am verhängnisvollen Ablauf der Folgen aus einer Ausgangssituation ändern, die sie weder mitgeschaffen hatte noch zu beeinflussen vermochte. Wir haben die Lektion gelernt, und es war eine Lektion der Bescheidenheit mehr noch als des Egoismus: Als kleines Land an einem Kreuzweg Europas konnten wir nicht viel mehr für das Heil der Welt tun, als auf unser eigenes bedacht zu sein und nach Möglichkeit den eigenen Staat aus der Katastrophe herauszuhalten, als Insel, Asyl und vielleicht als Begegnungsort am Rand der Vernichtungsorgie. Wir haben auch gelernt, dass die Weigerung, uns in die Kampffronten der Grossmächte einzureihen, keineswegs ein Ausdruck moralischer und politischer Indifferenz ist – ein indifferentes Land wäre in den Jahren, in denen rundum der europäische Kontinent vom Dritten Reich besetzt und unterworfen war, nicht lange der kalten Gleichschaltung entgangen – und dass sie nicht nur keine Leugnung der menschlichen Solidarität ist, sondern oft der einzige Weg, sie zu üben: der einzige, der einem kleinen Land angemessen ist, solange es nicht selbst angegriffen wird. Hüter des Bruders zu sein ist schon unter Menschen schwierig; unter Staaten gibt es keine Brüder, sondern bestenfalls Schützlinge, und der Schützling eines Kleinstaats kann höchstens Liechtenstein heissen.
Gewiss, die Geschichte wiederholt sich nicht; doch es gibt Abläufe und Verkettungen, die lange nicht mehr abreissen. Die Folgen dessen, was 1914 begann, sind noch immer unter uns. So wie der Zweite Weltkrieg die Fortführung des Ersten war, so entsprang alles, auch alles Neue und Umwälzende, was seit dem Zweiten Weltkrieg im Bereich der internationalen Beziehungen geschaffen wurde, eben diesem Krieg, der Allianz der Sieger zuerst und dann dem Konflikt zwischen den Siegern: die Vereinten Nationen, gegründet wiederum als Klub der Sieger zur Sicherung einer Weltordnung, über deren Grundlagen und Umrisse sie sich nie zu einigen versucht hatten; der Marshallplan und der Atlantikpakt, die den Zusammenschluss des Westens unter amerikanischer Führung einleiteten, und das aus dem Besatzungsregime Deutschlands ererbte unentwirrbare Geflecht von Bindungen und Souveränitätsbeschränkungen, das die Grundstrukturen der westeuropäischen Integration – der Integration des Ruhrgebiets und dann Westdeutschland in Westeuropa – bildete. Ausgehend von einer Situation, an der wir kein Verdienst und keine Schuld hatten, vollzog sich die Entwicklung durch alle Spannungen, Verwirrungen, Konflikte und Umkehrungen der Allianzen hindurch nach den Regeln eines Spiels, in dem wir nie mitzuspielen hatten. Die Schweiz, die weder Teilhaberin eines gemeinsamen Sieges noch Schuldnerin einer Niederlage war, gleich unbeteiligt an den Allianzen wie an deren Spaltungen, konnte wohl ihre Sympathien kundgeben, gelegentliche Dienste leisten, angebotene Klappsitze einnehmen und nützlich an jedem aufbauenden Unternehmen mitarbeiten, das keine Einreihung in die politischen Fronten voraussetzte: Es war die Haltung eines meist von bestem Willen beseelten Nachbarn, nicht die eines voll Mitbeteiligten.
Ich glaube nicht, dass dieses Fernbleiben von den internationalen Konflikten unsern Nachbarn oder der freien Welt zum Schaden gereichte; doch warum sollten wir verschweigen, dass es uns im Ganzen und auf die Dauer Gewinn brachte? Diese Haltung war keineswegs immer bequem und sie könnte eines Tages auch kostspielig werden – das ist hier nicht die Frage. Verwechseln wir nicht Ursachen, Gründe und Konsequenzen: Es ist sicherlich wahr, dass sich ausländische Kapitalien in die Schweiz flüchteten, weil sie bisher erfolgreich bemüht war, ausserhalb der Machtkonflikte und Allianzen zu bleiben; es ist nicht wahr, dass sie sich bemüht, ausserhalb der Konflikte und Allianzen zu bleiben, damit sich ausländische Kapitalien in die Schweiz flüchten …
Kein anderes Land ist so streng und permanent auf eine aussenpolitische Haltung – gewissermassen auf eine Enthaltung von Aussenpolitik – festgelegt wie die Schweiz. Staaten, die Bündnispolitik treiben oder machtpolitische Ziele verfolgen, können diese ändern oder auf sie verzichten; Staaten, die sich einer Schutzmacht anschliessen, können ihr untreu werden oder in günstiger Situation den Beschützer zu wechseln suchen; «aktive Neutralisten» können zahlreiche Varianten im Ausspielen einer Macht gegen die andere vornehmen: immer ist Aussenpolitik ein Balanceakt mit vielen Partnern, Gegenspielern und wechselnden Opportunitäten. Für die Schweiz haben sich inneres und äusseres Gleichgewicht so sehr miteinander identifiziert, ist das peinliche Fernbleiben des Staates von internationalen Bindungen und Verwicklungen so sehr zur Voraussetzung der staatlichen und staatsbürgerlichen Existenzform – und auch, nicht zuletzt, der fast unvergleichlichen internationalen Bewegungsfreiheit der Schweizer als Individuen – geworden, dass all dies unzertrennbar in die Selbstdefinition der Schweiz eingegangen ist und wir glauben würden, uns selbst erst völlig neu definieren zu müssen, wenn wir diesen Kurs ändern wollten.
Schon darum war die schweizerische Reaktion auf die werdenden «europäischen Gemeinschaften», die durch ihr blosses Bestehen, ihren Namen und ihre Zielsetzung implizite zum Anschluss aufzufordern schienen, so zwiespältig und zerrissen. Sie wäre es auch gewesen, wenn die Frage präziser gestellt, die Perspektiven erkennbarer und die proklamierten Ziele weniger dunkel formuliert gewesen wären: Auch im besten und unwahrscheinlichsten Fall einer projektierten demokratisch und föderalistisch organisierten Staatengemeinschaft hätte es noch die Entscheidung über den Wiedereintritt in die Kampffronten der Weltpolitik bedeutet, belastet mit dem ganzen Erbe vergangener Hybris und vergangener Katastrophen Europas. Die Auseinandersetzung wäre heiss gewesen, auch wenn sie schliesslich wohl nicht anders ausgegangen wäre als 1920 jene über den Völkerbund – denn dass die Schweiz zu Europa gehören müsste, wenn es Europa überhaupt gäbe, ist nicht nur eine geographische Binsenwahrheit.
Doch diese Hypothese war nicht gegeben und lässt sich noch kaum erträumen. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die genau den bei Kriegsende ausserhalb des russischen Zugriffs verbliebenen Bereich der grossdeutschen «Festung Europa» und ihrer verzweifelten «europäischen Schicksalsgemeinschaft» umfasst, bezieht ihr Pathos und ihre Ideologie aus ihrer labyrinthischen Entstehungsgeschichte, die zuletzt stets auf dieses politische, institutionelle, wirtschaftliche und geistige Trümmerfeld zurückführt. Noch der Vertrag von Rom wurde von seinen Vätern nach dem Scheitern aller direkten Versuche, politisch oder militärisch «Europa zu gründen», als listig-genialer Umweg zur europäischen Einigung konzipiert; doch der Umweg hat sich als Grossmarktunternehmen marktpolitischer Expansion, das durch seine Erfolge und seine Dynamik längst zum Zweck und zur Rechtfertigung seiner selbst geworden ist, selbständig gemacht, und die ideologischen Prätentionen der Brüsseler Direktorien und statistischen Ämter, als Ersatz oder gültige Vorwegnahme der Institutionen eines kommenden europäischen Vaterlandes zu gelten, waren bald nur noch irritierende Spiegelfechterei. Es lohnt sich nicht mehr, auf die unsägliche Verwirrung der Kategorien und Begriffe, der Gefühle und der Argumente zurückzukommen, die jahrelang die «Integrationsdebatte» kennzeichnete. Der Spuk ist in dem Augenblick zerstoben, in dem der Erfolg und das Prestige der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einen Andrang neuer Mitgliedschaftskandidaten auslöste und damit die Frage aufwarf, ob die Institutionen des Gemeinsamen Marktes über den Rahmen und Buchstaben des ursprünglichen Vertragstexts hinaus wirklich zu dem werden könnten, was sie zu sein vorgaben, zum Kern und Zentrum eines sich vereinigenden freien Europas. Weder der seltsam verbreitete und verräterische Glaube, dass sich das Politische irgendwie von selbst aus dem Wirtschaftlichen ergeben würde und dass so beharrungskräftige Gebilde, wie es souveräne Nationalstaaten sind, sich allmählich unvermerkt im allgemeinen Behagen einer Zollunions-Euphorie auflösen würden, noch die verblüffende Auffassung, dass es einem lebensfähigen Staatswesen zugemutet werden könnte, sich blindlings der Dynamik eines solchen Integrationsprozesses ohne definiertes Ziel auszuliefern, konnten den Schock überleben, den der die ganze weitere Entwicklung präjudizierende Entscheid über das Beitrittsgesuch Grossbritanniens noch mehr durch seine Form als durch seinen Inhalt ausgelöst hat. Denn dieser Entscheid ist nicht wirtschafts-, sondern machtpolitisch gefallen, nicht in den vorgesehenen Prozeduren der vertragsmässig und sachlich zuständigen Gremien, sondern durch den einsamen Beschluss eines neuen Sonnenkönigs im Elysée, und die qualvoll komplexen Verhandlungen in Brüssel über Zollpositionen und Präferenzen erwiesen sich als blosse Schattenspiele – es ging nicht um Zollpositionen und Präferenzen, sondern um Einfluss und Vorrang. Da die wirtschaftsbürokratischen Lenkungsstellen in Brüssel weder imstande noch befugt waren, eine politische Konzeption Europas zu entwickeln, ist der ideologisierte Gemeinsame Markt im Begriff, zum Instrument einer andern, machtpolitischen Konzeption zu werden, die noch einmal den stets gescheiterten Traum einer europäischen Kontinentalhegemonie zu träumen unternimmt, und er könnte daran zugrunde gehen. Finis Europae? Nichts ist zerstoben als der grause Alpdruck, dass mit Statistiken geschwängerte Rechenmaschinen das neue Europa gebären könnten; und für die Institutionen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist nun nichts dringender, als den Ballast ihrer politischen Prätentionen abzuwerfen und sich mit ihrem sachlichen Amt, das achtungsgebietend genug ist, zu bescheiden. Wenn aber das Ziel eines politisch geeinten Europa dennoch nicht aufgegeben werden soll, so werden sich seine Anhänger, um eine gewichtige Lehre reicher und um einige Illusionen ärmer, schliesslich doch der Mühe unterziehen müssen, eine politische Aufgabe politisch zu durchdenken, statt sich mit europäischen Hintergedanken zu begnügen. Wobei sich erweisen könnte, dass die lange Geschichte des Werdens der schweizerischen Eidgenossenschaft und der pluralistische Aufbau ihres Mikrokosmos zwar keine fertige Schablone, aber immer noch das einzige verfügbare Modell sind, an dem sich die möglichen Modalitäten einer organischen Integration der europäischen Partikularismen – im Gegensatz zu einer technokratischen Gleichschaltung – empirisch studieren lassen.
Vielleicht ist, was zu Beginn des fünften Jahres des Gemeinsamen Marktes eintrat, kein Rückschlag, sondern eine schöpferische Pause – auch für die Draussengebliebenen, auch für die Schweiz. Die zeitweise fast panische Verwirrung um die «europäische Integration» hat ein helvetisches Missbehagen am eigenen Sonderschicksal an den Tag gebracht, das stark einer Angst vor der Zukunft glich. Die Zeit liegt nicht allzuweit zurück, in der die Schweizer es liebten, der Welt ihre Einrichtungen und Traditionen mit jenem Brustton der Überzeugung zu erklären, als müssten wir den andern die rechte Lebensart beibringen: wenn sie nur auf uns hören würden, es stünde besser um die Welt! … Seit anderthalb Jahrzehnten war daraus ein bald demütiges, bald querulantenhaftes Bedürfnis geworden, uns der Welt nicht etwa als Vorbild, sondern als «Sonderfall» zu erklären, als hätten wir für unser Festhalten an unserer Lebensweise, die nichts weiter als die unsere ist, um Verständnis zu bitten. Denn wir sahen sehr wohl die Notwendigkeit der grossen Wirtschaftsräume und Zusammenschlüsse und die wachsende Abhängigkeit der Völker, in der die überlieferte nationale Souveränität zur Absurdität wird; doch was, fragten wir, würde in dieser werdenden Welt die Zukunft des kleinen Staates mit seinen eigentümlichen Formen der Freiheit und Gemeindeautonomie sein, an denen wir hängen? Würde uns weiter die Gnade des «Sonderschicksals» beschert sein, und würden wir sie ertragen – oder verfluchen? Müssten wir, um dieses Erbe zu erhalten, weiterhin gegen den Strom der geschichtlichen Entwicklung schwimmen?
Dieses Unbehagen war heilsam, wenn es dazu führte, die Grundlagen der eigenen staatlichen Existenz in einer seit dem Wiener Vertrag bis zur Unkenntlichkeit gewandelten Umwelt neu zu überdenken und in den eigenen Traditionen das Lebendige vom nur noch Musealen zu scheiden. Doch die Melancholie und die Bitterkeit, scheint mir, waren unbegründet, und erst recht die Panik, nun endgültig den Anschluss an den Strom der Geschichte zu verpassen. Es ist sicherlich wahr, dass der klassische Begriff der staatlichen Souveränität in einer Welt der organisierten gegenseitigen Abhängigkeit illusorisch wird und dass die modernen Massenvernichtungsmittel das «Recht auf Krieg» um nationaler Ziele willen, dieses letzte Kriterium der Souveränität, ad absurdum führen; doch diese klassische Souveränität entgleitet allen, den Grossen wie den Kleinen, und nicht für die Kleinstaaten ist ihr Verlust am spürbarsten. Es ist vielleicht auch wahr, dass die Zukunft den grossen Macht- und Wirtschaftsräumen gehört – obwohl dies schon oft für eine Zukunft vorausgesagt wurde, die bereits längst wieder der Vergangenheit angehört; doch in dieser Welt, die gestern noch unwiderruflich der Aufteilung zwischen zwei Riesen geweiht schien, sehen wir nicht nur die alten Reiche zerfallen, sondern die neuen Hegemonien wanken und klaffende Risse im monolithischsten Machtgefüge der Neuzeit erscheinen, und wir sehen, wie kleine rebellische Vasallen ungestraft die Kolosse herausfordern, in deren unbestrittenen Machtbereich sie gehörten; die Zeit, in der die Einzelgänger als Aussätzige erschienen, ist vorbei. Seit einigen Jahren ist im Durchschnitt fast monatlich ein neuer souveräner Staat geboren worden, darunter mehrere, neben denen die Schweiz geradezu als Grossmacht erscheint, und noch nie haben die Kleinstaaten eine so zahlreiche und stimmgewaltige Gesellschaft gebildet. Warum sollten wir darin nur eine Balkanisierung der Welt sehen, eine parasitäre Wucherung von Scheinsouveränitäten, die ihr Dasein nur dem Gleichgewicht der Grossmächte verdanken? Stellen wir einfach fest, dass zahlreiche kleine Länder ihrerseits ihre Autonomie erlangt haben und nun den schwierigen Lehrgang der Unabhängigkeit absolvieren und dass der historische Prozess, der so unwiderstehlich der Zweiteilung der Welt und schliesslich dem Weltstaat zuzustreben schien, darob anscheinend völlig seine Richtung verloren hat.
Die Weltgeschichte ist kein Strom, der von einer einzigen Strömung zu Tal gerissen wird: Keine Allegorie ist falscher und zutiefst unmenschlicher als diese. Wenn die Welt nach der grossen Einheit strebt, wie wir gern glauben wollen, so strebt sie nicht minder mit all ihren lebendigen Kräften nach der Freiheit und Selbstbestimmung all ihrer Gemeinschaften, auch der kleinsten – und diese beiden Ideale sind nicht notwendigerweise unvereinbar. Die ganze Geschichte der Schweiz ist da, um zu zeigen, dass es am Ende langer Unordnungen und Gewalttätigkeiten möglich war, auf kleinem Raum die Einheit und die Vielheit, den Zusammenhalt des Ganzen und die Eigenständigkeit der konstituierenden Teile zu vereinen; im Blick auf diese gelungene Synthese hat 1913, am Vorabend der europäischen Katastrophen, der französische Historiker Elie Halévy gesagt, Europa habe zu wählen zwischen der «universellen schweizerischen Republik» und dem kriegerischen Caesarismus. Wir sind der universellen Gültigkeit unseres schweizerischen Miniaturmodells nicht mehr so gewiss; doch war denn eigentlich die Voraussage Halévys im Grunde falsch – und haben wir aufgehört, an unsere eigenen Lehren zu glauben? Es könnte wohl sein, dass das überlebende Europa über all die tastenden Versuche, Erfolge und Fehlschläge der «Integration» schliesslich dazu gelangt, auf anderem Wege und in anderem Massstab eine ähnliche Synthese zu erarbeiten: denn Europa wird nicht darum herumkommen, den Föderalismus zu entdecken oder neu zu erfinden, wenn es eine Einheit bilden will, ohne sein Wesen zu zerstören. Und jenseits Europas, von radikal entgegengesetzten Ausgangspunkten aus und in gegenläufigen, doch vielleicht konvergierenden Entwicklungen scheinen sowohl jene Welt, die wir die freie nennen, wie jene, die wir als die totalitäre bezeichnen, dazu verurteilt, nach Organisationsformen zu suchen, die sowohl die anarchische Zersplitterung in Einzelsouveränitäten und Pseudosouveränitäten wie die Tyrannis der gleichschaltenden Befehlszentrale überwinden. Gewiss lädt unsere Epoche nicht zu rosigen Zukunftsvisionen ein, und jeder Vorausblick ist nur unter dem Vorbehalt möglich: vorausgesetzt, dass die Menschheit überlebt … Doch wenn sie überlebt, dürfen wir glauben, dass sie nie aufhören wird, nach jener menschlich annehmbaren Lebensform zu suchen, die Freiheit und Ordnung vereint.
Nachwort von Herbert Lüthy zur deutschsprachigen Fassung
Dieser Aufsatz wurde 1961 unter dem Titel «La Suisse a contre-courant» für die Revue economique franco-suisse geschrieben, um erstaunten französischen Lesern die «uneuropäische» Haltung der Schweiz gegenüber der europäischen Integration zu erklären. Die vorliegende deutsche Fassung stammt von 1963, dem Jahr der ersten «Integrationskrise». All das ist lange her: Hochkonjunktur, Nationalstrassen und Miragebeschaffung steckten noch in den Kinderschuhen, ein Hauch schlichter Biederkeit lag wenigstens noch als Erinnerung über Berg und Tal, und die kühnsten Prognosen sahen für unser Land einen Bestand von einer Million Automobilen im Jahre 1975 voraus . Der Zeitstil der allerneuesten Neuzeit ist dann viel schneller und dröhnender hereingebrochen, und auch um dasselbe zu sagen, müsste man es heute zeitgemäss ganz anders formulieren. Doch wozu den Staub wegblasen, der sich nun einmal auf alles nicht völlig Fabrikneue setzt? Die Fragwürdigkeit der Institutionen und Traditionen ist inzwischen zum Gemeinplatz geworden; wir haben sogar eine Totalrevision der Bundesverfassung durchdiskutiert und schon wieder fast vergessen . Die Kraft des Unzeitgemässen liegt oft gerade darin, dass es nicht mit der Zeit geht: es scheint, dass die Modelle für die Schweiz im Jahre 2000 schneller veralten als die Institutionen von gestern. So mag dieser Text ohne Retouchen bleiben.
Herbert Lüthy, August 1969
Kurzporträt Herbert Lüthy

Die Schulen besuchte er in Glarus und St. Gallen, es folgten Studienjahre in Paris, Genf und Zürich (Dr . phil. I Zürich 1943). Von 1946 bis 1958 lebte er im Ausland, vor allem in Paris, als freier Schriftsteller, Journalist und Privatgelehrter. Seit 1958 war Herbert Lüthy Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH, Zürich. 1971 wechselte er an die Universität Basel, wo er bis zu seiner Emeritierung 1980 tätig blieb.
1969 wurde Lüthy in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Von 1975 bis 1979 war Lüthy Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Für seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen wurde Lüthy mehrfach geehrt. Im Jahr 1975 erhielt er den Jacob-Burckhardt-Preis der Johann Wolfgang von Goethe-Stiftung Basel. 1989 wurde ihm der Oertli-Preis «für seine Arbeit als Historiker und Analytiker des Föderalismus» verliehen. Das ihm 1968 von der Universität Genf verliehene Ehrendoktorat gab er 1977 aus Protest zurück, nachdem diese Universität den Soziologen Jean Ziegler zum ordentlichen Professor ernannt hatte.
Um sein Œuvre für eine breitere Öffentlichkeit zu sichern, erschien zwischen 2002 und 2005 bei NZZ Libro eine Werkausgabe in sieben durch Anmerkungsapparate erschlossenen Bänden, herausgegeben von Irene Riesen (Verlagslektorin, Romanistin, Übersetzerin) und Urs Bitterli (Ordinarius für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich). Sie ist in allen Kantons- und Universitätsbibliotheken greifbar. Einen niederschwelligen Zugang zu ausgewählten Essays von Herbert Lüthy bietet die Website www.herbert-luethy.ch.
Bildnachweis: Booklooker. Porträt: ETHZ
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