Albert Schweitzer – Ehrfurcht vor dem Leben. Bei kaum einem Denker gehören Leben und Idee so eng zusammen wie hier, und Schweitzer schildert sogar, wann ihm diese Formulierung «Ehrfurcht vor dem Leben» zufiel. 1913 war es, als er mit seiner Frau Helene von Lambarene aus eine Reise unternahm. Am dritten Abend fuhren sie dem Fluss Ogooué entlang, und «auf einer Sandbank, zur Linken, wanderten vier Nilpferde in derselben Richtung wie wir. Da kam ich, in meiner grossen Müdigkeit und Verzagtheit plötzlich auf das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘, das ich, so viel ich weiss, nie gehört oder gelesen hatte.»
Ein Einfall, aber keiner, der aus dem Nichts kam. Denn Schweitzer hatte schon zuvor lange damit gerungen, dass sich die abendländische Ethik nur mit dem Verhältnis zu anderen Menschen befasste, die übrige Kreatur aber aussen vor liess. Dennoch war dieses Erlebnis am Ogooué für Schweitzers weiteren Denkweg zentral, weil es ihm den Schlüssel an die Hand gab, eine Ethik zu entwickeln, die uns «nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserem Bereich befindlichen Kreatur» in Berührung bringt und uns in die Pflicht nimmt. Denn schon seit Kindheitstagen beschäftigte den späteren Friedensnobelpreisträger das Schicksal der Tiere. So berichtete er, wie er jeweils am Abend, wenn seine Mutter mit ihm gebetet hatte, er noch «heimlich ein selbst verfasstes Zusatzgebet für alle lebendigen Wesen» anhängte.
Trotzdem war es noch ein langer Weg zur Ausformulierung einer Ethik, die nicht bei unseren Mitmenschen Halt macht, sondern uns letztlich zu allem, was ist, in ein neues Verhältnis setzt. Diese Befreiung der Ethik aus einem engen anthropozentrischen Korsett macht ihn zu einem Pionier der Tier- und Umweltethik und kann als eine seiner bleibenden Leistungen angesehen werden.
Wenn Schweitzer von «Leben» spricht, meint er eben tatsächlich nicht nur das Leben von Menschen:
«Es war der Fehler aller bisherigen Ethik, nicht das Leben als solches als den geheimnisvollen Wert erkannt zu haben, mit dem sie es zu tun hat. […] Das Unternehmen, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen zu statuieren, läuft darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserm Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen, was ein ganz subjektiver Massstab ist. Wer von uns weiss, was das andere Lebewesen an sich und in dem Weltganzen für eine Bedeutung hat?»
Die Ehrfurcht, die Schweitzer meint, ist also durchaus auch Ehrfrucht vor den Tieren, Ehrfurcht vor der Biene, dem Regenwurm, dem Sperling. Denn die Ehrfurcht, die Schweitzer meint, ist kein Respekt, den mir ein Wesen abnötigt, weil es so beeindruckende Fähigkeiten hat, dem Menschen so ähnlich ist oder so wahnsinnig «süss» ist wie mein Hündchen. Das erinnert nicht von ungefähr an die Liebesethik Jesu, die ja die die Liebe auch nicht auf die Liebenswürdigen und uns Nahestehenden beschränkt, sondern uns dazu auffordert, mit den Augen der Liebe auf die Welt zu blicken und so von Fall zu Fall zu entdecken, wer hier und jetzt «der Nächste» ist. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass Schweitzer seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als «die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe» verstand.
Schweitzer forderte nichts weniger, als zu allem Leben, ja zum Universum, in ein neues Verhältnis zu kommen. Aber ihm war nur allzu bewusst, wie sehr uns eine solche Einstellung in Widersprüche und Konflikte verwickelt:
«Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt.» Das gilt nicht nur für seine Tätigkeit als Mediziner, in der er zum «Massenmörder der Bakterien» wird, sondern für das ganze menschliche Dasein. Für jede und jeden von uns gilt: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.»
Überall Konflikte also, und Schweitzer sah es nicht als Aufgabe der Ethik an, diese Konflikte für die Menschen aufzulösen und ihnen pfannenfertige Rezepte an die Hand zu geben dafür, was sie tun dürfen und sollen. Wer in Schweitzers Ethik nach Antworten sucht für ein konkretes ethisches Problem, wird nicht fündig werden. Eine Ethik, die das eigene Gewissen beruhigen soll, war ihm ein Gräuel, denn sie würde nicht nur der Komplexität unserer Wirklichkeit nicht gerecht. Sie würde uns auch abstumpfen lassen gegenüber dem immer neu ergehenden Ruf in die Verantwortung. «Nie dürfen wir abgestumpft werden», formulierte er. «In der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben.» Auch darin ist Schweitzer nahe an der Verkündigung Jesu, die in ihrer Schroffheit sich auch weigert, den ethischen Anspruch abzumildern und Kompromisse vorzuschlagen.
Wenn wir uns also 150 Jahre nach seiner Geburt und 60 Jahre nach seinem Tod an Schweitzer erinnern, dann als einen ethischen Unruhestifter. So harmlos die Formel «Ehrfurcht vor dem Leben» auch klingt, sie hat durchaus revolutionäres Potenzial. Auch heute noch.
Kurzporträt Christoph Ammann

Der Arbeitskreis Kirche und Tiere (AKUT Schweiz) setzt sich aus christlicher Perspektive für die Belange der Tiere und die Respektierung ihrer Würde ein. Er versucht insbesondere Kirchen und kirchliche Institutionen zu mehr Mitgeschöpflichkeit zu bewegen. Weitere Informationen zu den Tätigkeiten von AKUT finden sich auf www.arbeitskreis-kirche-und-tiere.ch
Albert Schweitzer: Stiftungen, Werk, Zentrum

Empfehlung: Geniessen Sie ein paar Tage in Günsbach/Elsass im Gastbetrieb, dem «Alten Pfarrhaus», wo Albert Schweitzer einen Teil seiner Jugend verbracht hat. Besuchen Sie dort das neue Museum, angegliedert am Albert-Schweitzer-Haus, mit umfassenden Informationen zum Leben und Wirken Albert Schweitzers.
Hinweis: Albert Schweitzers Verbundenheit mit der Schweiz – Standortliste von Auftritten in der Schweiz. Übersicht: 78 Orte mit insgesamt 123 offiziellen Auftritten (Konzerte, Orgelspiel, Predigten, Vorträge).
Fotos Albert Schweitzer mit Tieren
SICHTWEISENSCHWEIZ.CH dankt Walter Schriber für die folgenden Fotos, die aus seinem Privatarchiv stammen. Walter Schriber engagiert sich als Stiftungsrat des Albert-Schweitzer-Werks und Präsident der Stiftung Albert-Schweitzer-Zentrum Günsbach-Bern.




Bildnachweis: Albert Schweitzer mit Tieren, Fotos aus dem Privatarchiv von Walter Schriber. Zentrum Günsbach im Elsass, Stiftung Albert Schweitzer Zentrum. Porträtbild Christoph Ammann.
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