Remo Arpagaus ist Szenograf, Musiker und Chorleiter. Für die architektonische und bauliche Zukunft der Schweiz setzt er das unproduktive Land als neues Siedlungsgebiet in Szene: Leben, Wohnen und Arbeiten in alpinen Dörfern oder Kleinstädten, die sich an den Berg lehnen, deren Infrastruktur im Innern des Bergs ausgebaut wird – mit herrlichem Panoramablick auf die renaturierten Talebenen.
Hier die 20 Gedanken und Anregungen sowie die eine Schlussbemerkung von Remo Arpagaus:
1. «Wir müssen erkennen, dass wir in einer historisch einzigartigen Zeit leben. Unsere Ansprüche an persönliche Freiheiten, Individualismus und damit an Konsum, Mobilität und Raum sind geprägt von nie dagewesenen grenzenlosen Möglichkeiten, aber auch von einem verschwenderischen, sorglosen Umgang mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen.»
2. «Wir leisten uns den Luxus, dass wir unsere Wohnhäuser, Fabriken, Schulen, Gymnasien und Universitäten oder Bürogebäude die Hälfte der Zeit leer stehen lassen.»
3. «Wir betrachten Mobilität als eine Selbstverständlichkeit, pendeln täglich zur Arbeit oder reisen für eine Chorprobe von Zürich nach Chur und zurück.»
4. «Die Banalität, mit denen ein jeder heute die natürlichen Ressourcen beansprucht, führt auch auf Ebene der Gemeinde zu einem gedankenlosen Umgang mit dem Raum. Die Zersiedlung der Schweiz wird durch die Gemeindeautonomie gestützt, so dass der Individualismus selbst in der Gestaltung unserer Umwelt dominiert. Schweizer Städte und Dörfer wachsen, oft von ökonomischen Partikularinteressen getrieben, in die Landschaft hinein. Von aussen betrachtet, erscheint unser Siedlungsgebiet oft wie in ein strukturloses Konglomerat von Häusern und Leerräumen. Vieles wurde und wird in der Schweiz ohne Konzept gebaut.»
5. «Eine positive Bescheidenheit könnte zu neuen Einsichten führen. Denn die eben skizzierte Entwicklung ist nicht nur eine Folge von Fehlplanung oder falschen politischen Anreizen, sondern viel mehr eine gesellschaftliche und kulturelle Frage.»
6. «Das Weltbild der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ist tief geprägt von Individualismus, Selbstverwirklichung und Eigenintentionen. Das Wirtschaftswachstum und die beinahe grenzenlose Verfügbarkeit von Geld, Zeit und Energie haben unsere Erwartungen an diese geprägt: Alles ist jederzeit und überall verfügbar.»
7. «Wir müssen uns vor Augen halten, dass in den Berggebieten die Menschen in zwei bis drei Generationen aus einer Lebenswelt, die näher am Mittelalter war als an unserer heutigen Welt, ins digitale Zeitalter katapultiert wurden. Meine Eltern halfen im Stall noch im Licht der Petrollampe, und die Kinder wurden schon mit vier Jahren auf das Feld geschickt. Vieles, was vor 70 Jahren selbstverständlich war, ist heute unvorstellbar.»
8. «Weite Kreise in der Stadt- und Landbevölkerung haben den wirklichen Bezug zu natürlichen Zusammenhängen verloren. Vergessen geht etwa, dass hinter jeder Pizza saftige Kornfelder, Grasweiden und Plantagen stecken. Milch stammt nicht aus dem Tetrapakbeutel, das Steak nicht aus der Xelofanfolie, sondern IMMER von einer Wiese!»
9. «Der wirtschaftliche und der technologische Fortschritt hat unser Leben angenehmer, dynamischer, abwechslungsreicher und flexibler gemacht. Unbestritten ist, dass die Jahre des Wirtschaftsbooms unser Leben erleichtert haben.»
10. «Auffällig ist, dass die heutigen Zukunftsszenarien meist technologische Verheissungen sind, die – gefangen im Fortschrittsglauben – Individualismus und Selbstverwirklichung predigen.»
«Warum nicht in den Alpen Dörfer und ganze Kleinstädte bauen,
Remo Arpagaus
die sich an den Berg lehnen?»
11. «Für eine Schweiz im Einklang der Ressourcen braucht es eine andere, eine neue Generation, deren Mantra nicht immer mehr, immer höher, immer besser, immer effizienter, immer schöner, immer raffinierter lautet.»
12. «Meine Vorstellung besteht darin, die Alpen als ganzheitlichen Lebensraum wieder zu entdecken und im Einklang mit den Ressourcen zu bewohnen.»
13. «Um so wenig Kulturland wie möglich verschwenden zu müssen, wurden in den Alpen, und auch in anderen Gebieten, die Siedlungen fast ausschliesslich an der Peripherie des kultivierbaren Bodens angelegt. Beispiele gibt es zur Genüge, hierzulande etwa im Wallis, Engadin oder Tessin, gar in alten Kulturen wie die Nilauen in Ägypten, um nur einige zu nennen. Die Gesellschaft muss neue Wege finden, um den Kulturboden in unserem Land zu schützen und intelligenter zu nutzen.»
14. «In der Schweiz sind gemäss Bundesamt für Raumentwicklung nur etwa 43 Prozent der Landfläche für Siedlungen UND Landwirtschaft nutzbar, während 57 Prozent als unproduktives Land gelten.»
15. «Heute leisten wir uns den Luxus, diesen knapper werdenden produktiven Boden immer mehr zu überbauen. Daraus folgt meine Anregung an Fachpersonen aus Architektur und Landschaftsplanung sowie an Bauherrschaften und Politik: Das unproduktive Land sollte in der Schweiz als neues Siedlungsgebiet erschlossen werden.»
16. «Die Vorstellung mag utopisch sein, aber warum nicht in den Alpen Dörfer und ganze Kleinstädte bauen, die sich an den Berg lehnen? Im Inneren des Bergs versteckt liegen die technische und energetische Infrastruktur, aber auch Lagerhallen, Urban-Farming-Anlagen, Sportstadien, Kino oder Theater könnten im Fels sein.»
17. «Die futuristische Vision von einem Leben in der Vertikalen mit Terrassen, hängenden Gärten, Wasserfällen sowie Wohnhäusern, Schulen und Gewebebauten mit herrlichem Panoramablick auf die renaturierten Talebenen scheint lebensfremd und zu fantastisch. Aber schon die Inkas siedelten im peruanischen Hochgebirge, wo sie Terrassenlandwirtschaft pflegten und ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem entwickelten, um in den wasserarmen Anden überleben zu können.»
«Zumindest für die Ressource Boden besteht die Hoffnung, dass eine nächste Generation den Urplan der Besiedlung von Bergregionen wieder aufnimmt.»
Remo Arpagaus
18. «Die Nutzung von unproduktivem Land als Siedlungsgebiet, seien es nun die Berge, sei es die Wüste, sei es die Tundra oder seien es Sumpf- und Wasserlandschaften, beschäftigte die Menschheit schon immer. Die Geschichte zeigt, dass das Wohnen in extremen Regionen schon immer grosse Herausforderungen an die Kreativität, die Zusammenarbeit und das soziale Zusammenleben der Menschen stellte, diese aber auch dazu motivierte, Einzigartiges zu erschaffen.»
19. «Wenn südeuropäische Länder wie Griechenland, Italien oder Spanien mit kontinental-afrikanischen Temperaturen, die Schweiz ihrerseits zusehends mit südeuropäischen Temperaturen überzogen werden, eröffnen sich für die Menschen neue, lebenswertere Klimazonen in den Alpen mit gemässigteren Temperaturen. Halten die höheren Hitzegrade in tieferen Lagen langfristig an, könnte dies zu einer Flucht der Bevölkerung aus dem Unterland in die Berge führen. Das Unterland entsiedelt sich, der Dichtestress verringert sich. Die Nachfrage nach Lebens-, Wohn- und Arbeitsraum in den Alpen steigt an.»
20. «In diesem Wandel stelle ich mir Menschen vor, die zurück in die Berge ziehen – nicht als Touristen oder Wochenendausflügler, sondern um dort in einer verantwortungsvollen, nachhaltigen und sozialen Gesellschaft zu leben und zu arbeiten, in enger Symbiose mit der Naturlandschaft, im Einklang mit den Ressourcen.»
20 plus 1: «Erstmals formuliert habe ich einige der 20 Gedanken und Anregungen als Tagträume der Architektur. Tage später, gewissermassen aus dem Tagtraum erwacht, wollte ich sie alle wegwerfen und für immer entsorgen. Gemach, halt, stop: Wegwerfen, zumal impulsgeleitet, wäre unbedacht. Denn in diesem Augenblick erinnerte ich mich an den ersten Gedanken. Wenn wir unsere Ressourcen schon sorglos wie nie zuvor verschwenden, so besteht hierzulande zumindest für die Ressource Boden die Hoffnung, dass eine nächste Generation den Urplan der Besiedlung von Bergregionen als Grundprinzip wieder aufnimmt, das Kulturland als heilig/untouchable betrachtet und ausschliesslich unproduktive Flächen in neue Siedlungsgebiete im Einklang mit den Ressourcen erschliesst. Und sollte Kulturland ausnahmsweise bebaut werden müssen, so muss das bebaute Kulturland um die doppelte Fläche kompensiert werden – entweder durch bestehende Bauten auf ehemaligem Kulturland oder durch neue Bauten auf den für Anbau- oder Weideflächen ungeeigneten und unfruchtbaren Berggebieten.»
Kurzporträt Remo Arpagaus

Tagträume der Architektur

Bildnachweis: Titelbild Leander Wenger / Zermatt Tourismus, Porträtbild Barbara Truog
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