Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9, das stärkste je in Japan gemessene, die Ostküste, gefolgt von einem Monstertsunami. Er überflutete über 500 km2 Küstenfläche, 500‘000 Menschen wurden obdachlos. Schlimmer hat es Japan seit dem Zweiten Weltkrieg nie getroffen. Und dann gerieten gleichzeitig drei Reaktoren in einen kritischen Zustand.
Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima mussten rund 90’000 Bewohner evakuiert werden, weitere 60’000 sind aus Angst vor der Strahlung freiwillig weggezogen.
Das gesamte von der Radioaktivität betroffene Gebiet umfasste anfänglich etwa 1200 km2. Heute (2025) gelten noch rund 300 km2 (Grössenordnung Kanton Genf: ca. 282 km²) als kritisch («difficult to return»), deren ehemalige Bewohner dürfen noch nicht zurückkehren.
Die Strahlung muss sehr gefährlich sein – doch wie gefährlich ist sie wirklich?
Fürchten wir uns vor dem Richtigen? Fukushima und Schweiz im Vergleich
Wenige Monate nach der Katastrophe beauftragte die Generalversammlung der UNO (Resolution 66/70) das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen ionisierender Strahlung (UNSCEAR) mit einer umfassenden Analyse der gesundheitlichen und ökologischen Folgen. Über 80 Expertinnen und Experten aus 18 Ländern sowie fünf internationale Organisationen nahmen ihre Arbeit auf. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führte eigene Untersuchungen durch. Ein erster ausführlicher Bericht wurde im April 2014 veröffentlicht und von der Generalversammlung der UNO genehmigt. Die Hauptaussage: Die Strahlung wird keine negativen Effekte erzeugen, zumindest keine messbaren.
Aus dem UNSCEAR-Bericht lässt sich abschätzen, dass in der Kernzone ein nicht evakuierter Bewohner bei lebenslangem Aufenthalt eine zusätzliche Dosis von durchschnittlich etwa 0.150 Sv erhalten hätte (Sv ist ein Mass für die erhaltenen Strahlendosis, 5 Sv auf einen Schlag wirken meist tödlich). Zusammen mit der «normalen» Untergrundstrahlung von etwa 0.2 Sv ergeben sich im Kerngebiet der Katastrophe Lebensdosen von 0.35 Sv.
Schlimm?
Kaum, denn zufällig ist dies gerade die durchschnittliche natürliche Strahlenbelastung in der Schweiz (dank etwas mehr Uran oder Thorium im Boden als im Durchschnitt).
Prophezeiung namens «Linear-No-Threshold» (LNT)
Andererseits: Die LNT-Hypothese («auch die kleinste Dosis ist schädlich») prophezeit bei unterlassener Evakuation rund 1000 zusätzliche Krebsopfer – verteilt auf die folgenden 100 Jahre.
Kein Gesundheitsamt und kein Politiker wagt es heute, ein solches Risiko zu verantworten – selbst wenn es sich nur um ein hypothetisches, nicht nachweisbares Risiko handelt.
Und so evakuiert man vorsorglich – und ignoriert die weiter unten beschriebenen negativen Folgen. Die UNSCEAR lässt denn auch eine leise Kritik an den Evakuierungen durchblicken. Wie bereits erwähnt, wird festgehalten, dass die Strahlung selber keine messbaren Folgen haben wird, dass hingegen die überhastete Evakuation zu Todesfällen geführt hat, besonders unter alten und kranken Menschen. Die verschiedenen Angaben schwanken von einigen 100 bis zu über 1000 Opfer.
Mutter Natur strahlt radioaktiv – und pfeift auf Grenzwerte
Im UNSCEAR Bericht wird auch darauf hingewiesen, dass man die künstliche Radioaktivität im Kontext der natürlichen Radioaktivität betrachten soll. Nur so können die Zahlen eingeordnet werden. In der Tat: In einem Kubikmeter normaler Erde befinden sich im Mittel etwa 20 g Uran und Thorium, mit bösen Töchtern wie Radon oder Polonium (wesentlich toxischer als Plutonium).
Und so kommt es, dass allein die obersten 30 cm des Bodens in Japan über 100-mal mehr natürliche Radioaktivität enthalten als der Fukushima-Fallout.
Das Natururan produziert auch Radon, pro Jahr, auf die Fläche Japans umgerechnet, mehr als die Reaktorkatastrophe an Cäsium-137 in die Umgebung entlassen hat. Cs-137 ist mit Abstand für den grössten Teil der Dosisbelastungen der umliegenden Bevölkerung verantwortlich.
Nicht nur die Erde ist ordentlich radioaktiv. Die kosmische Strahlung erzeugt durch Nuklearreaktionen mit der Luft fortlaufend radioaktive Elemente, z.B. Kohlenstoff-14 (C-14). Weltweit übersteigt die Menge dieser strahlenden Elemente in Anzahl Zerfälle (Bq) gemessen, die aus Fukushima entlassene Radioaktivität bei weitem. Unter anderem gibt es auch etwa 100-mal mehr kosmisch erzeugtes Tritium.
Und im Ozean sieht es ähnlich aus: Allein die natürliche Radioaktivität des Pazifiks übersteigt die freigesetzten Mengen aus Fukushima um das Hunderttausendfache.
Alle diese natürlichen radioaktiven Substanzen sind global fein verteilt und deshalb – und auch weil sie von Mutter Natur stammen – nicht auf dem Radar der Öffentlichkeit. Aber gemäss der LNT-Hypothese ist ihre Wirkung auf die Erdbevölkerung sehr viel schlimmer als Tschernobyl, Fukushima und alle Atombombentests zusammen.
Zwar sagt die Aktivität, gemessen in Bq (Anzahl radioaktiver Zerfälle pro Sekunde), nichts Genaues über die gesundheitlichen Folgen. Sie bietet jedoch einen ersten Anhaltspunkt. Die radioaktiven Substanzen im Boden sind deutlich gefährlicher als der Cs-137-Fallout, die kosmogen erzeugten eher weniger gefährlich.
Die Alpen müssten evakuiert werden
Das grosse Dilemma: Die durchschnittliche Lebensdosis im Evakuationsgebiet von Fukushima (etwa 0.35 Sv, inklusive der natürlichen Strahlung) wird in vielen bewohnten Regionen auf diesem Planeten von der natürlichen Strahlung überschritten. Im Weltmittel bestrahlt uns die Natur im Laufe unseres Lebens mit etwa 0.2 Sv (2.4 mSv pro Jahr). Doch in Teilen der Alpen überschreitet die Lebensdosis 0.4 Sv – ebenso in zahlreichen weiteren Regionen wie dem Piemont, Kalabrien, dem Schwarzwald, Erzgebirge, dem französischen Massif Central oder den Rocky Mountains.
Eine paradoxe Situation: Eigentlich müsste man umgehend Millionen von Menschen aus solchen Gebieten evakuieren. Denn die Wissenschaft ist sich völlig einig: Die natürliche radioaktive Strahlung wirkt genau gleich wie die künstliche.
Doch es gibt ein noch krasseres Dilemma, diesmal betrifft es weit über eine Milliarde Menschen.
Und die Städte? Das Dilemma mit dem Feinstaub
Die Fukushima-Reaktoren liegen in einer ländlichen Küstengegend mit recht sauberer Luft. Wer in der Folge in städtische Gebiete evakuiert wurde – etwa in die Stadt Fukushima oder gar in eine Grossstadt – kam dabei sprichwörtlich vom Regen in die Traufe.
Denn: Eine dauerhafte Belastung der Atemluft mit 10 µg/m3 Feinstaub mit Durchmesser kleiner als 2.5 µm (PM2.5) erhöht laut WHO die langfristige Mortalität um 6–8 %. Das entspricht – umgerechnet in strahlenbiologische Einheiten – einer Horrordosis von über 1 Sievert – mehr als dem Zehnfachen des Evakuationsgrenzwertes von Fukushima. In Ballungszentren werden 10 µg/m3 oft überschritten (auch in der sauberen Schweiz), in asiatischen Megastädten auch 100 µg/m3. Der Feinstaubgrenzwert liegt in der Schweiz bei 10 µg/m3, in der EU bei 25 µg/m3. Die WHO empfiehlt 5 µg/m3.
Die gesundheitliche Relevanz dieser Diskrepanz ist enorm – doch sie wird kaum öffentlich diskutiert.
«Während Strahlung sofort Alarm auslöst,
Walter Rüegg, Buchautor «Zeitalter der Ängste»
nehmen wir die weit greifenderen Risiken durch Luftverschmutzung
oft achselzuckend hin.»
Es grenzt an fahrlässiger Ignoranz, Evakuierungen bei Dosen von 20 mSv/J (Evakuationsgrenze in Japan) durchzuführen und die Menschen dann in eine Gegend mit einer höheren Feinstaubbelastung zu verpflanzen. Wir können es auch umgekehrt formulieren: Wendet man beim Feinstaub die gleichen Risikokriterien an wie bei der radioaktiven Strahlung (in Japan Evakuation bei 20 mSv/J, Lebensdosis von 60 mSv), müssten wir alle Agglomerationen dieser Welt räumen.
Grenzwerte beim Feinstaub relativ hoch, bei der Radioaktivität unsinnig tief
Evakuierungen sind brutale Eingriffe ins Leben eines Menschen. Man verliert auf einen Schlag sein Zuhause, die vertraute Umgebung, den Arbeitsplatz, die Freunde – und steht vor einer unsicheren Zukunft. Dazu kommen noch die Ängste vor den Folgen der Strahlung. Dies alles hat ohne Zweifel negative Auswirkungen auf die Gesundheit.
Die Schlussfolgerung: Unsere heutigen «radioaktiven» Grenzwerte sind mit Sicherheit zu viel des Guten. Sie haben mehr mit einer tief verankerten Phobie vor kleinsten Strahlendosen zu tun als mit dem Schutz der Gesundheit.
Mit den aufschlussreichen Gegenüberstellungen in diesem Beitrag klärt sich eine weitere Frage für anstehende Debatten:
Worin besteht die grösste Sünde in der Risikokommunikation? Keine Vergleiche anzustellen.
Denn nur durch Vergleiche lassen sich Risiken überhaupt einordnen – in ihrer Grössenordnung, ihrer Relevanz, und ihrer Bedrohlichkeit.
Kurzporträt Walter Rüegg

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