Wer putzt die Schweiz? Marianne Pletscher fragen, was die Schweiz erfolgreich macht. Folge 2

Marianne Pletscher nähert sich in ihrem Buch «Wer putzt die Schweiz?» vielfältigen Protagonistinnen und Protagonisten mit überwältigenden Erfahrungsschätzen, Schicksalen und Stolz. Ein Musterbeispiel, wie wir alle mit gesellschaftlichen Brüchen und menschlichen Verletzlichkeiten umgehen können. Die Autorin ergänzt: «Ich hätte genauso gut ein Buch mit dem Titel: «Wer baut die Schweiz?» oder «Wer pflegt die Schweizer?» machen können. Immer waren und sind es Menschen aus anderen Ländern, legal oder illegal eingereist, die zum Erfolg der Schweiz beigetragen haben.»

In der Serie «Fokus CH-X: Menschen fragen, was die Schweiz erfolgreich macht» stellt SICHTWEISENSCHWEIZ.CH dieselben drei Fragen zu den Erfolgsfaktoren der Schweiz stets anderen Menschen, in Folge 2 Marianne Pletscher.

Welche Sichtweisen hat Marianne Pletscher, Buchautorin und Filmemacherin, zur Schweiz?


Frage 1: Welche Gründe haben in der Vergangenheit zum Erfolg der Schweiz geführt?

Marianne Pletscher: «Wie soll ich diese Frage als Superprivilegierte aus dem reichsten Land der Welt bloss beantworten? Wie definiert sich Erfolg überhaupt?

Den wirtschaftlichen Erfolg verdanken wir ganz sicher nicht nur «uns Schweizern». Das beginnt ganz konkret mit dem Beispiel meiner Grosseltern mütterlicherseits: Sie wanderten um 1880 aus Italien in die Schweiz ein, arbeiteten hart: der Grossvater als Strassenbauer, die Grossmutter als Baustellen-Köchin. Später eröffneten sie ein kleines Restaurant, betrieben Landwirtschaft, zogen gleichzeitig sechzehn Kinder auf. Alle wurden Schweizer und Schweizerinnen, vielen war die Schweiz zu eng – sie zogen weiter. Grossvater «Nenni» litt an einer Staublunge, Grossmutter «Nana» an starker Arthrose. Zurück nach Italien wollten sie nie mehr, beide sind früh gestorben. Ob sie je Schweizer Bürger wurden, weiss ich nicht, es war kein Thema in unserer Familie. Dass sie der Schweiz mindestens so viel gaben wie die Schweiz ihnen, darüber sprach niemand.

Sie waren die Vorhut einer späteren Migrationswelle von Hunderttausenden von Italiener:innen, die als Hilfskräfte in unser Land kamen. Sie gehörten zu den Ersten, die von der Industrialisierung profitierten und die Schweiz profitierte enorm von ihrer Arbeitskraft. Sie waren alle genauso wichtig wie die visionären Unternehmer und Eisenbahnpioniere, genauso wichtig wie noch früher die französischen Einwanderer, welche die Uhrenmanufakturen im Jura gründeten. Restriktive Einwanderungsgesetze gab es damals noch nicht. Einreisevisa und Arbeitskräftekontrollen wurden erst 1931 eingeführt. Erst nach dem zweiten Weltkrieg führte der Arbeitskräftemangel zu einer massiven Einwanderung und gleichzeitig einer jahrzehntelangen restriktiven Migrationspolitik (Saisonnierstatut). Die Schweizer:innen tolerierten die Einwanderer:innen, weil sie sie brauchten. Meine Mutter, Seconda, aber im Herzen Italienerin, führte einen Mittagstisch für Kinder von Saisonniers. Erst viel später realisierte ich, dass es sich dabei um versteckte Kinder handelte, die offiziell gar nicht im Land sein durften. Etwas später kamen auch einsame Dienstmädchen aus dem Tessin bei meiner Mutter zum Essen. Zürich war so reich geworden, dass sich jetzt viele Villenbesitzer Dienstbotinnen und Putzfrauen leisten konnten. Apropos Putzfrauen: Meine Grossmutter väterlicherseits war vermutlich eine der ersten. Sie hatte als einfaches Mädchen aus dem Bernbiet einen Schweizer aus Schaffhausen geheiratet. Als dieser früh starb, brachte sie ihre drei Kinder mit Putzen durch. Damals halfen auch viele einfache Schweizer und Schweizerinnen wie sie, unser Land zu entwickeln.

«Erst viel später realisierte ich, dass es sich dabei um versteckte Kinder handelte, die offiziell gar nicht im Land sein durften.»

Marianne Pletscher, Buchautorin «Wer putzt die Schweiz?»

Als Kind liebte ich die ausländischen «Gspäändli», die legal die Schule besuchen durften und die Mittagstisch-Kinder, die nach dem Essen wieder nach Hause rennen mussten. Sie erzählten so farbig von Italien, teilweise auch schon von Portugal oder Jugoslawien, sie brachten Süssigkeiten aus der Heimat mit, die ich nicht kannte. Als junge Erwachsene durfte ich alle meine in europaweiten Zugsfahrten kennengelernten ausländischen Freund:innen nach Hause bringen. Für Mutter waren Fremde immer bereichernd. Etwas später erlebte ich dann die Schwarzenbach-Initiative und die Initiative gegen die Überfremdung mit. Nur ganz knapp wurden sie abgelehnt. Ich lernte, dass nicht alle in Ausländerinnen und Ausländern primär Menschen sahen. Da ich keine politische Aktivistin sein wollte, beschloss ich, in Artikeln und Filmen zu zeigen, wer die Eingewanderten wirklich sind, wie sie denken und träumen und was wir verpassen, wenn wir sie nicht besser kennenlernen. Und was auch die Politik verpasste, denn eine restriktive Migrationspolitik verhindert eine gute Integration. Nach der Rezession 1974/75 machte ich einen ersten Dokumentarfilm über die vielen Italiener:innen, die unser Land aus wirtschaftlichen Gründen wieder verlassen mussten. Ein Rückkehrer in Kampanien brachte es auf den Punkt: «Die Schweiz hat von uns profitiert, dann hat sie uns einen Tritt in den A… gegeben und uns zurückgeschickt.» Aber viele kamen wieder, andere kamen, mit neuen Talenten, neuen Geschichten. Und das führt mich zur zweiten Frage.»


Frage 2: Warum ist die Schweiz heute erfolgreich?

Marianne Pletscher: «Wie erfolgreich ist die Schweiz wirklich? Wirtschaftlich ja, so erfolgreich, dass uns öfters die Menschlichkeit abhanden gekommen ist – im Umgang mit Fremden, und damit auch untereinander. Während in der Vergangenheit bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts die Arbeitsmigrant:innen massiv zum Erfolg der Schweiz beitrugen und nicht geliebt, aber geduldet wurden, kamen und kommen seither vermehrt Geflüchtete aus fernen Kontinenten oder dem Südosten Europas.

«Und wohl nichts ist für junge Menschen schlimmer und gefährlicher, als jahrelang zum Warten verdammt zu sein.»

Marianne Pletscher

Wieder habe ich sie durch Filme kennenlernen dürfen, in den Ländern, aus denen sie stammten oder hier in der Schweiz: Ich habe Menschen aus Chile, der Dominikanischen Republik, Sri Lanka, Kosovo, Bosnien, Kurdistan, Eritrea, Somalia getroffen und wieder gestaunt, wie widerstandsfähig sie trotz ihrer schwierigen Kriegsvergangenheit, ihren schmerzhaften Fluchterfahrungen und der Ablehnung hier in der Schweiz waren und sind. Und ich habe gesehen, wieviel sie zum Wohlstand der Schweiz beitragen, wenn sie arbeiten dürfen. Aber sie lösten bei vielen Schweizern noch mehr Angst aus als damals die Arbeitsmigrant:innen aus Italien. Der «Blick» sprach von den Tamilen Ende der achtziger Jahre als den «schwarzen Drogenhändlern» am Berner Bahnhof. Die SVP hätte am liebsten alle Menschen aus dem Kosovo ausgewiesen. Ein Grossteil der Angst kam daher, dass diese Menschen nicht nützlich sein durften, weil ihnen unser Asylsystem in den ersten Jahren ihres Aufenthalts das Arbeiten verbot. Und wohl nichts ist für junge Menschen schlimmer und gefährlicher, als jahrelang zum Warten verdammt zu sein.

«Nur im Bundesrat und in der Schweizer Skinationalmannschaft sind sie noch nicht angekommen.»

Marianne Pletscher

Die Frauen haben es hier einfacher als die Männer. Sie putzen zu Tausenden illegal, fallen nirgends auf und stören niemanden. Aber die Wirklichkeit spricht gegen die Angst: die Kinder der Arbeitsmigrant:innen der fünfziger Jahre und der Geflüchteten der letzten Jahrzehnte sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie eröffneten Restaurants, sie betreiben Kleingewerbe aller Art, Putzinstitut, Treuhandbüros, Tech-Firmen. Die Kinder meiner damals portraitierten Migrantinnen und Migranten sind Wissenschafter, Bankerin, Model, Gewerkschaftssekretär, ja sogar Offizier der Schweizer Armee geworden. Secondos und auch bereits einige Erstgeneration-Geflüchtete politisieren in Kantonsregierungen und im Schweizer Parlament. Einige von ihnen sind sogar der SVP beigetreten, der Partei, die sich am stärksten gegen Zuwanderung wehrt. Mehr noch als zu wirtschaftlichen Erfolgen tragen viele der Menschen mit Migrationshintergrund zu den kulturellen Erfolgen der Schweiz bei. Sie gewinnen Buchpreise, leiten Theater, sind Musikerinnen. Ihre Erfolge zeigen: Integration braucht nicht nur Durchsetzungsfähigkeit, sondern auch Zeit. Sie sind auch schon zu unseren grossen Sporthelden geworden, vor allem im Fussball. Nur im Bundesrat und in der Schweizer Skinationalmannschaft sind sie noch nicht angekommen.

Dann gibt es noch die hochqualifizierten Expats. Viele bleiben nur ein paar Jahre. Ihnen wird die mangelnde Integration längst nicht so vorgeworfen wie den Geflüchteten, obwohl sie viel bessere Voraussetzungen hätten. Sie nehmen übrigens mit ihren teuren Wohnungen den Ansässigen viel mehr Platz weg als die Geflüchteten. Von den eingewanderten Reichen mit Pauschalbesteuerung wollen wir hier nicht mehr Worte verlieren, aber sicher brauchen sie mehr Wohnraum als Asylbewerber:innen in unterirdischen Bunkern. Ihr Geld nehmen wir gerne, manchmal trägt es auch zum wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz bei.

Und die Kriminalität? Zwar stimmt es, dass viel mehr Ausländer als Schweizer in unseren Gefängnissen sitzen. Viele der Delikte haben jedoch mit ihrem Aufenthaltsstatus zu tun, mit prekären Wohnverhältnissen, mit Ausgrenzung, mit mangelndem Familiennachzug. Und ja, Migrant:innen sind nicht per se bessere Menschen als Schweizer:innen. Und die islamistischen Messerstecher? Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin sicher, in einer behüteteren, solidarischeren Gesellschaft würden psychisch Kranke schneller erfasst. Aber wie wir in Zukunft mit unseren ausländischen Mitbürger:innen und neu Geflüchteten umgehen werden, führt mich direkt zur dritten Frage.»


Frage 3: Was braucht es, was stimmt Sie zuversichtlich, dass die Schweiz auch in Zukunft erfolgreich sein wird?

Marianne Pletscher: «Zuversicht ist ein schwieriges Wort. Ich beantworte diese Frage kurz nach der Amtsübernahme von Präsident Trump in den USA, nach dem Wahlerfolg der AFD in Deutschland und andern Erfolgen von rechtsextremen Parteien fast weltweit, in einer Zeit bröckelnder Brandmauern gegen Rechtsextrem. Eigentlich ist mir meine Zuversicht, hier oder anderswo ein gutes Leben führen zu können, gerade ziemlich abhanden gekommen. Auch in der Schweiz ist Migration und deren Abwehr ein Hauptthema geworden, das Schlagwort Remigration wird mit immer weniger Scham gebraucht, sogar das Asylrecht wird in Frage gestellt.

Es ist einfach für Politiker, mit der Forderung, die Grenzen zu schliessen, mit der Forderung nach Abschiebungen, mit der Feststellung, es werde zu viel Geld für Geflüchtete ausgegeben, Aktivität zu signalisieren. Migrant:innen wird an allem die Schuld gegeben, von einer verfehlten Wohnpolitik und Raumplanung spricht fast niemand mehr. Fast niemand mehr spricht davon, dass der Klimawandel weltweit ein viel grösseres Problem ist, dass wir endlich aufhören sollten, immer mehr von allem zu wollen: Grössere Autos, mehr Auslandferien, noch mehr Kleider, noch mehr Platzbedarf beim Wohnen – und da zähle ich mich selbstkritisch auch dazu. Niemand spricht davon, dass kurzfristiger wirtschaftlicher Erfolg weltweit einen schnelleren Klimakollaps bedeuten wird. Und keine und keiner spricht mehr davon, dass wir ohne Einwanderung europaweit gar nicht mehr existieren können.

Die englische Zeitung «The Guardian» hat kürzlich in einem eindrücklichen Artikel aufgezeigt, wie stark die europäischen Gesellschaften ohne Einwanderung schrumpfen werden, wenn die Kinderzahlen weiter so sinken. Dies würde eine Überalterung und noch grössere Probleme bei der Gesundheitsversorgung bedeuten. Die Renten könnten massiv sinken. Vom «The Guardian» zitierte Experten prophezeien einen so starken Bevölkerungsschwund für die Schweiz, dass dieser bis ins Jahr 2100 fast zwei Millionen Menschen betragen könnte. Dies wird nicht passieren, weil niemand je die Einwanderung ganz stoppen kann und will. Um die nötigen, gutverdienenden Fachkräfte brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, diese kommen noch so gerne aus ganz Europa in die Schweiz und fehlen dann dort. Aber wir würden es bald spüren, wenn niemand mehr unsere Häuser bauen, unsere Spitäler, Strassen und Wohnungen putzen würde.

«Wird es diese Solidarität geben? Im Einzelnen gibt es sie schon hundertfach.»

Marianne Pletscher

Was können wir tun, ausser die Parteien und Organisationen zu unterstützen, die uns nahe sind? Ich glaube, je menschlicher jede und jeder Einzelne mit unseren legalen und illegalen Einwanderer:innen umgeht, je hilfsbereiter jeder und jede Einzelne ist, desto besser werden wir die «Migrationskrise» und schlimmerer Krisen überwinden und an eine Zukunft glauben können. Wird es diese Solidarität geben? Im Einzelnen gibt es sie schon hundertfach. Meine Hoffnung liegt bei den einzelnen Menschen, die beispielsweise Gruppen für ukrainische Frauen gründen, Migrantenkindern gratis Nachhilfeunterricht erteilen, jungen Geflüchteten einen Snowboardtag im Schnee ermöglichen. Oder konkreter: Mit Schwester Ariane, die jeden Tag Hunderten von Armen mit und ohne Schweizer Pass Gratisessen verteilt. Oder sogar noch eindrücklicher: Meine Hoffnung liegt bei Menschen wie dem jungen Geflüchteten Amine Diare Conde, der ein paar Jahre nach seiner Flucht ausgehend von der alternativen Schule in Zürich während der Corona-Krise für legale und illegale Eingewanderte eine Riesenorganisation «Essen für Alle» auf die Beine stellte und damit weiterfuhr, weil er sah, wie viele Menschen darauf angewiesen waren. Er kam als zuerst abgelehnter Asylbewerber, heute macht er eine Lehre und ist Mitglied des Zürcher Flüchtlingsparlaments. Integrierter und nützlicher zugleich kann man kaum sein.

Sie alle und auch meine Mutter mit ihrem Mittagstisch für Einwandererkinder und ihren Dienstmädchentreffen, die daran glaubte, dass die Fremden eine Bereicherung für unser Land sind, gaben und geben mir weiterhin Hoffnung auf eine solidarische Schweiz. Nur so können wir eine demokratische und vielfältige Gesellschaft bleiben.»


SICHTWEISENSCHWEIZ.CH dankt Marianne Pletscher herzlich für das Interview.


Kurzporträt Marianne Pletscher
Marianne Pletscher, aufgewachsen in Zürich, Studium in Zürich und den USA. Seit den 1980er Jahren Regisseurin von Dokumentarfilmen, vor allem zu sozialen Themen. Zuvor Reporterin, Auslandkorrespondentin und Produzentin für das Schweizer Fernsehen. Dozentin für Dokumentarfilm in Zürich und Bern sowie in Nepal, Sri Lanka und Kuba. Sie hat mehrere Bücher verfasst und Preise gewonnen. Jetzt ist sie selbständige Autorin und Filmemacherin.

Marianne Pletscher, geboren 1946, ist eine Macherin auf festem biografischem Fundament: «Bei allem, was ich gemacht habe und mache in meinem beruflichen Leben ging und geht es mir immer darum, in meinen Geschichten das Leben von Menschen in unserer brüchigen Gesellschaft aufzuzeigen, anhand der Verletzlichkeit meiner Protagonistinnen und Protagonisten Möglichkeiten zu suchen, wie wir alle besser mit diesen Brüchen umgehen könnten.»

Buchempfehlung
Sie möchten das Buch «Wer putzt die Schweiz? Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer» von Marianne Pletscher und Mark Bachmann lesen? Limmat Verlag 2022. Zum Titelbild des Buches: Embaba N. aus Eritrea wurde einst bei ihrer Flucht samt ihren Kindern verhaftet. Heute lebt sie mit Mann und allen drei Kindern in der Schweiz.

Hauptbildnachweis: Nura B. aus Bosnien will nach traumatischen Kriegserfahrungen für immer in der Schweiz bleiben. Fotografie Marc Bachmann, veröffentlicht im Buch «Wer putzt die Schweiz?», Seite 106.

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Aktualisiert 14. April 2025

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