In der Serie «Fokus CH-X: Menschen fragen, was die Schweiz erfolgreich macht» stellt SICHTWEISENSCHWEIZ.CH dieselben drei Fragen zu den Erfolgsfaktoren der Schweiz stets anderen Menschen.
Welche Sichtweisen hat Maya Tharian, Co-Präsidentin der Jungen Grünliberalen Schweiz, zur Schweiz?
Frage 1: Was hat die Schweiz in der Vergangenheit zum Erfolg geführt?
Diese Frage wirft zunächst Rückfragen auf. Welche Vergangenheit? Und welche Erfolge? Die Geschichte der Schweiz von heute begann in vielerlei Hinsicht 1848, allerdings war sie nicht von Anfang an durch Erfolg geprägt. Zum Zeitpunkt der Gründung und auch einige Jahrzehnte danach war die Schweiz ein Auswanderungsland – arm, sodass viele ihr Glück im Ausland versuchten.
Diese Armut ist vielleicht schuld am ersten Erfolgsfaktor der Schweiz: die Schweizer spüren stets den Stachel im Rücken. Nichts Gutes im Leben ist gottgegeben, und man muss stets bereit sein sich zu wandeln, wenn neue Herausforderungen kommen. Ohne Wandel kein Erfolg.
Der erste grosse Wandel, den die junge Schweiz dann auch durchmachte, war das Reichwerden. Viele Prozesse wurden von der Staatsgründung selbst losgekickt. Die Schweiz hatte nun ihren ganz eigenen schweizerischen Binnenmarkt. Das Land machte eine Industrialisierung und damit eine erste Urbanisierung durch. Viel Wandel war angesagt! Unsere Eisenbahnen sind so fest Teil unseres Landes, des Erscheinungsbilds und der Lebensrealität hier, dass man vergisst, dass sie Produkt eines wuchtigen Wandels waren, in dem die Grundzüge unseres Landes innert weniger Jahrzehnte gebaut wurden. Schon damals war es der Export, der unsere kleine Binnenwirtschaft angekurbelt hat. Die Schweiz war arm, sie war ein Auswanderungsland, und sie hat sich innert weniger Jahrzehnte ganz grundlegend verwandelt. Es muss sich wie eine Revolution angefühlt haben.
Mit dem ersten grossen Wachstum kamen die grossen Städte und ihre Herausforderungen. Auch hier hat sich die Schweiz schnell wandeln können. Die Schweiz machte vorwärts im Arbeitnehmerschutz mit den Fabrikgesetzen. Das öffentliche Bildungswesen wurde ausgebaut und sorgte für Chancengerechtigkeit. Nach und nach folgten die Sozialwerke, insbesondere die AHV. Die Infrastruktur in den Städten für die boomende Bevölkerung wurde gebaut – viele Schweizer Städte sind damals geworden, was sie heute sind.
Selbst unsere Demokratie hat sich gewandelt: Vieles, was wir als selbstverständliche Pfeiler unserer direkten Demokratie empfinden, waren Errungenschaften, die man nach und nach eingeführt hat. Dazu gehören die Proporzwahlen und das Mehrparteiensystem sowie auch das Initiativ- und Referendumsrecht.
Wie schnell die Schweiz im Bereich Umwelt zu Wandel fähig ist, zeigt ihre Reaktion auf das Waldsterben und die Wasserverschmutzung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Heute ist die Schweiz für ihr sauberes Erscheinungsbild, die vorbildliche Recyclingquote, die gute Luft und das klare Wasser berühmt. All das war nur durch Wandel möglich. Wandel, der so effektiv war, dass die Schweiz heute die besten Kläranlagen der Welt hat.
Die Fähigkeit und Offenheit für Wandel, das hat die Schweiz erfolgreich gemacht. Als Tochter von indischen Einwanderern kann ich zudem nicht folgenden Erfolgsfaktor unerwähnt lassen: Die Einwanderung. Mit der Industrialisierung ist die Schweiz vom Aus- zum Einwanderungsland geworden. Max Frisch schrieb in den 1960ern über die italienischen Arbeiter:innen in der Schweiz: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Diese Menschen wurden von der Schweiz verwandelt – und sie haben die Schweiz selbst verwandelt. Das ist der Zauber der Immigration. Auch meine Eltern kamen als Arbeitskräfte. Wie rund 40% der Schweizer Bevölkerung habe ich einen Migrationshintergrund. Wir alle sind in meinen Augen Schweizer:innen, ob Pass oder nicht. Und wir alle haben uns von der Schweiz verändern lassen. Ein Land, stets im Wandel, und was gestern sich noch wie eine Revolution angefühlt haben muss, ist heute so typisch Schweizerisch, als wäre es nie anders gewesen.
Frage 2: Warum ist die Schweiz heute erfolgreich?
Wir sind heute erfolgreich dank der Früchte der Arbeit von gestern. Wenn die Schweiz sich auf ihren Lorbeeren ausruht, wird sich die Frage stellen, wie lange der Erfolg bleiben wird.
Nur wer immer den Stachel im Rücken spürt und bereit ist zum Wandel, der bleibt erfolgreich.
Die Schweiz hat einige Asse im Ärmel, die sie auf die Herausforderungen von heute gewappnet machen. Der Wohlstand ist einer, aber auch der Zusammenhalt über kulturelle und sprachliche Gräben hinweg ist hier nennenswert. Die Schweiz ist eine Willensnation. Vier Sprachregionen, 26 Kantone, integriert in einen Bundesstaat. Das geht nur mit Respekt vor der Vielfalt und dem Willen zum Gemeinsinn. Polarisierung ist ein gefährlicher Virus, der so manch eine Demokratie plagt, auch die unsere, aber ich bin zuversichtlich, dass wir besonders gut dagegen geimpft sind. Die Willensnation, das Milizwesen und unsere ausgeprägte Diskussionsbereitschaft miteinander werden uns diese Polarisierung überstehen lassen.
Trotzdem: Die Fugen unserer Welt sind in Bewegung gekommen. Wir können die Herausforderungen für unsere Exportwirtschaft, unsere Umwelt und den sozialen Frieden nicht wegignorieren. Sonst ist der Schweizer Erfolg schnell Geschichte.
Frage 3: Was braucht es, was stimmt Sie zuversichtlich, dass die Schweiz auch in Zukunft erfolgreich sein wird?
Die Schweiz hat bewiesen, dass sie zu tiefgreifendem Wandel fähig ist – sehr oft sogar. Die Mühlen der direkten Demokratie mahlen langsam, aber dafür gründlich. Wenn wir eine Veränderung anpacken, dann alle gemeinsam. Wir müssen wieder den Stachel im Rücken spüren, denn es gibt viel anzupacken.
Einerseits sind das die internationalen Handelsbeziehungen: Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt steht auf der Kippe ohne die Bilateralen III, und gerade werden der regelbasierte internationale Handel vom mächtigsten Mann der Welt auf den Kopf gestellt. Hier gilt es darum, als Erstes die irreführend genannte «Nachhaltigkeits»-Initiative der SVP, welche die Personenfreizügigkeit kündigen will, zu bekämpfen. Die SVP meint, den Fünfer und das Weggli haben zu können. Die Wahrheit ist aber, dass die Schweiz für sich in der Vergangenheit genau darum das Beste herausholen konnte, weil sie wusste, dass niemandem – erst recht nicht einem kleinen Binnenstaat – der Fünfer und das Weggli als Recht zusteht. Als Nächstes gilt es, die Bilateralen III anzunehmen, um den Erfolgskurs der Schweiz fortzusetzen.
Der Klimawandel ist die nächste grosse Herausforderung. Einiges hat sich in den letzten Jahren auf Gesetzesebene getan. Die Netto-null-Ziele, welche Bund und Kantone sich gesetzt haben, müssen nun umgesetzt und die Energiewende durchgezogen werden. Ziele sind einfach zu setzen, Ziele umsetzen ist schwierig. Das Zusammenspiel von Unternehmen, Staat und Gesellschaft wird uns über die Zielstrecke bringen – aber bis wir dort sind, werden grosse Veränderungen kommen. Ich denke hier vor allem an die Transformation der linearen Wirtschaft hin zu einer Kreislaufwirtschaft.
Zuletzt stehen wir aktuell vor grossen demografischen Herausforderungen für den sozialen Frieden. Gerade im Bereich Wohnraum müssen wir anpacken und – wie wir es schon oft im Verlauf der Schweizer Geschichte getan haben – auf das Wachstum reagieren. Wohnraum muss bezahlbar bleiben, und es ist im Interesse unserer Willensnation, wenn die Menschen nicht nach Einkommen segregiert wohnen.
Mut zu Differenziertheit und zu Lösungen sind es, die die Schweiz über die Zielstrecke bringen werden. Kein Rückfallen auf simplistische Lösungen von Populisten. Früher war nicht alles besser. Aber wenn wir es schaffen, uns zu wandeln, dann kommen wir vorwärts.
SICHTWEISENSCHWEIZ.CH dankt Maya Tharian für das Interivew.
Kurporträt Maya Tharian

Bildnachweis: Aufmacherbild Thorin Joller, Portraitfoto Jasmin Karim.
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