Swiss History-Charts by Hanspeter Amstutz

Mit Hanspeter Amstutz wird Geschichte lebendig – ob Sie nun zügig von Chart zu Chart surfen oder bei einigen oder gar allen 89 Charts die Texte zur Erläuterung und Vertiefung lesen. Sie entscheiden. Beides ist möglich. Beides bringt Ihnen die Soziale Frage in der Schweiz näher.


Beim Thema «Soziale Frage» richtet sich der Fokus in erster Linie auf die Arbeitnehmer. Es geht dabei um Spinnereiarbeiter in der Textilindustrie und Mechaniker in der Maschinenindustrie. Beleuchtet werden auch die Familienverhältnisse und die Rolle der Frauen. Für ein ausgewogenes Geschichtsbild empfiehlt es sich, das «Werden der Schweiz von 1848» zu berücksichtigen. Darin werden die Leistungen grosser Schweizer Unternehmer für den wirtschaftlichen Aufschwung und die politische Neugestaltung unseres Landes gewürdigt.



Warm-up: 12 Thesen zur Sozialen Frage in der Schweiz

Was bringen Erkenntnisse zur Schweizer Geschichte, wenn sie zwar gelesen, jedoch nicht mit anderen Menschen geteilt und ausgetauscht, diskutiert und debattiert werden? Die 12 Thesen regen das Gespräch in der Familie, mit Freunden, in der Firma an. Wo sind Sie dagegen, wo dafür? Mit welchen Analysen und Argumenten?

  1. Kinderarbeit im 19. Jahrhundert war bei uns eine absolute Ausnahme.
  2. In den Familien in den Mietskasernen wurde auf eine ausgewogene Ernährung geachtet.
  3. Arbeiter in der Maschinenindustrie waren gegenüber den Textilarbeitern bessergestellt.
  4. Die Arbeiter wussten sich zu helfen, indem sie eigene Läden führten und später Gewerkschaften mit eigener Streikkasse gründeten.
  5. Streiks sind immer das beste Mittel, um Lohnforderungen durchsetzen zu können.
  6. Arbeiterschaft und Bürgertum standen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielerorts feindlich gegenüber und lebten in ihren eigenen Welten.
  7. Der Erste Weltkrieg hat bei uns die sozialen Spannungen enorm verschärft.
  8. Lenin wollte zuallererst eine kommunistische Revolution in der Schweiz durchführen.
  9. Von den Forderungen des Oltner Generalstreikkomitees von 1918 ist bis heute keine einzige erfüllt worden.
  10. Durch die Bedrohung von aussen haben sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Schweiz angenähert und schliesslich Frieden geschlossen.
  11. In den Dreissigerjahren herrschte bei uns Vollbeschäftigung und Aufbruchstimmung.
  12. Vom Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre profitierte auch die Arbeiterschaft.


Zwischen Wetzikon und Uster sind am Aabach um 1860 nicht weniger als 13 Spinnereien angesiedelt. Dank der neuen Eisenbahnverbindungen nach Zürich und Rapperswil können die Baumwolle und die Textilien günstiger transportiert werden. Die Illustration zeigt den Zustand des eindrücklichen Industrieensembles bei Aathal gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Neben den alten Hauptgebäuden sind moderne Neubauten mit Shed-Dächern (Sägezahndächer) zu sehen. Heute dienen die grossen Bauten kleinen Industriebetrieben oder werden als Wohnungen genutzt. In einer der Spinnereien ist heute das Sauriermuseum von Unteraathal untergebracht.


Die Spinnereiarbeiter leben meist in unmittelbarer Nähe der Fabrik. Damit können sie länger an den Maschinen arbeiten, weil der Arbeitsweg sehr kurz ist. Die sogenannten Kosthäuser sind Mehrfamilienhäuser von einfachstem Standard. Dünne Wände zwischen den Wohnungen, kein fliessendes Wasser im Haus und wenig Platz für die kinderreichen Familien machen das Leben in den Mietskasernen beschwerlich. Im Krankheitsfall können sich die Fabrikarbeiterfamilien keinen Arzt leisten. Kinderkrankheiten oder die Folgen schwerer Unfälle führen zu einer hohen Kindersterblichkeit. Wenn die Kinder in der Fabrik etwas falsch machen oder Schäden verursachen, zieht ihnen der Aufseher ein Bussgeld vom Lohn ab. Zuhause werden die Kinder dann meist geschlagen, weil sie weniger Lohn als erwartet den Eltern übergeben können. Bis Ende des 19. Jahrhunderts sind die Perspektiven der Spinnereiarbeiterkinder miserabel. Nur wenige schaffen es, aus dem Elend auszubrechen und beruflich vorwärtszukommen.


Für das Auswechseln der Spindeln an den Maschinen werden in den Spinnereien unzählige Kinder zu niedrigsten Löhnen eingesetzt. Die Kinder verbringen lange Arbeitstage mit zwölf und mehr Stunden in der stickigen Luft der Spinnereisäle. In den Spinnereisälen riecht es penetrant nach Maschinenöl. Die Kinder sind meist barfuss, da zweckmässige Schuhe für sie zu teuer sind. Auf den öligen Holzböden kommt es oft zu Fussverletzungen durch Holzsplitter. Oft entstehen aus diesen Wunden Infektionen oder gar gefährliche Blutvergiftungen. – Auf dem Bild sieht man einen Aufseher, der mit einem „Fuchsschwanz“ einen Jungen schlägt, weil er offenbar etwas falsch gemacht hat. Kinder zu schlagen ist damals üblich und wird nicht strafrechtlich geahndet. Wahrscheinlich noch mehr als die Schläge schmerzt die Kinder der Lohnabzug, der bei fehlerhaftem Verhalten gemacht wird. Mit der Einführung der obligatorischen Schulpflicht im Kanton Zürich im Jahr 1832 wird die Kinderarbeit wenigstens für Primarschüler verunmöglicht. Doch bereits 12-Jährige werden zur gefährlichen und ungesunden Arbeit in die Spinnereien geschickt. – Das Bild rechts zeigt zwei Buben in einer amerikanischen Spinnerei bei ihrer gefährlichen Arbeit.


Für viele Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen heisst es: Ab 12 gehst du in die Spinnerei! Man sieht es diesen traurig wirkenden Kindern an, dass sie viel zu viel arbeiten müssen. Die harte Arbeit in den ungesunden Spinnsälen hat sie bereits abgestumpft. Sie haben keine Chance, eine Lehre in der Maschinenindustrie beginnen zu können, da ihre Schulbildung nur rudimentär ist. Doch auch für viele Bauernkinder ist es nicht viel besser. Sie werden nach der Primarschule in die Repetierschule (Oberstufe mit nur zwei Halbtagen Unterricht) geschickt, damit sie auf dem väterlichen Hof mitarbeiten können. Ohne die Mithilfe aller Familienmitglieder ist es für die Bauern schwierig, finanziell über die Runden zu kommen. Aus diesem Grund wehren sich die vielen Kleinbauern gegen die Einführung einer Vollzeitschule für alle auf der Oberstufe. Nur begabte Kinder aus guten finanziellen Verhältnisse können in der Regel die freiwillige Vollzeit-Sekundarschule besuchen. Erst 1899 wird im Kanton Zürich die obligatorische Schulpflicht mit täglichem Unterricht auf der Oberstufe eingeführt (Volksschulgesetz von 1899).


Kunz ist ein tüchtiger Unternehmer in der Textilindustrie, aber brutal hart im Umgang mit den Mitmenschen und sich selbst. Den Gewinn aus seinen Spinnereien verwendet er zum weiteren Ausbau seiner Fabriken, sodass er Mitte des 19. Jh. schliesslich das grösste Spinnerei-Imperium von Kontinentaleuropa mit mehr als 133 000 Spindeln besitzt. Kunz liegt oft im Streit mit anderen Fabrikbesitzern, weil er ihnen das Wasser abgegraben hat. Er missachtet laufend Gesetze und zeigt kaum soziales Verhalten. Als er 1859 stirbt, ist er trotz seines Reichtums ein tief verbitterter Mann. Er war ein Fabrikherr ohne Herz, der die Arbeitskraft von Kindern und Frauen rücksichtslos ausbeutete. Man kann ihn deshalb nicht in die Reihe der grossen Unternehmer wie Rieter oder Sulzer stellen.


Die Gegenüberstellung zeigt die Situation der Spinnereiarbeiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Fabrikherren bauen sich oft an guter Lage eine schöne Villa mit einem kleinen Park. Die schmucklosen Mietskasernen stehen häufig an schattiger Lage in einem Flusstal und sind vom übrigen Dorf isoliert. Die Abbildung rechts zeigt Mietskasernen am Aabach in Uster.


Dieses sechsteilige Flarzhaus mit den Reihenfenstern steht im Weiler Undalen in der Gemeinde Bauma. Der älteste Hausteil aus dem 16. Jahrhundert befindet sich in der Mitte des Flarzes. Bei der Heirat des Sohns war es üblich, für den Sohn und seine Familie das Haus durch eine neuen Wohnungsteil zu erweitern. So entstand schliesslich ein Flarzhaus für sechs Familien. Die Platzverhältnisse in den Wohnungen waren eng. Unten waren Stube und Küche, oben zwei kleine Zimmer. Fliessendes Wasser im Haus gab es nicht. Dafür steht vor dem Flarz ein Brunnen. Die Stube wurde mit einem Lehmofen geheizt. Ursprünglich war das Haus mit einem Schindeldach gedeckt. In vielen Flarzhäusern standen in den hellen Stuben Webstühle und Spinnräder. Neben der Textilproduktion war auch die Herstellung von praktischen Holzgegenständen verbreitet. So wurden im Tösstal Holzkellen und Holzlöffel hergestellt („Chelleland“). – Das hier abgebildete Haus in Undalen wird Freddi-Haus genannt. Als letzte Bewohnerin lebte im Mittelteil die Fabrikarbeiterin Rosa Freddi, die 1978 verstarb. Heute ist dieser Teil des Hauses ein Museum.


Der Aufstieg der Winterthurer Maschinenindustrie geht nach einer Wirtschaftskrise (1876 bis 1886) weiter und führt zu einem grossen Bevölkerungswachstum. Immer mehr Bauern (in Töss sind es Rebbauern) verlassen ihren Hof und finden Arbeit in den Maschinenfabriken. Die Zahl der Arbeiter wächst deshalb stark. Das Bild (kurz vor 1900) zeigt die stark vergrösserte Firma Rieter, deren Textilmaschinen nun in die ganze Welt exportiert werden. Noch ist das Kirchenschiff der Klosterkirche zwischen den Fabrikbauten zu erkennen. Erst 1915 wird das grosse Gebäude abgebrochen. Das ganze Gebiet zwischen Töss und der Winterthurer Altstadt ist unterdessen überbaut worden. Je leistungsfähiger die neuen Maschinen werden, desto mehr technische Kenntnisse sind bei den Mechanikern nötig. Da technische Fachleute gefragt sind, steigen die Löhne in der Maschinenindustrie kontinuierlich.


Heinrich Rieter geniesst viel Respekt bei der Arbeiterschaft, da er nicht nur die Firma zielgerichtet ausbaut, sondern auch sozial eingestellt ist. Er möchte, dass tüchtige Angestellte in grosszügigen Wohnungen leben können. An der Rieterstrasse in Töss wird nach Rieters Vorstellungen eine moderne Arbeitersiedlung errichtet. Diese besteht aus einer Reihe von Doppeleinfamilienhäusern mit Gärten. Die Mietpreise sind tief, dennoch können sich meistens nur Werkmeister oder Vorarbeiter die schönen Wohnungen leisten. Das kleine Farbbild rechts oben zeigt zwei Häuser der heutigen Siedlung. Die Rieterstrasse steht heute unter Denkmalschutz. Sie gilt als älteste Arbeitersiedlung der Schweiz. Die Häuser sind bis heute äusserlich nur wenig verändert worden, verfügen aber unterdessen über moderne Inneneinrichtungen. Nicht mehr vorhanden sind die Holzzäune, welche jedes Haus von der Strasse deutlich abgrenzten. Mit einer modernen Gartengestaltung wirkt die Siedlung heute offener und weniger streng.


Bis weit über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus haben die Arbeiter keine Krankenkassen und sind nicht gegen Unfall versichert. Wer invalid wird, trägt ein schweres Los, da er keine Invalidenrente erhält. Weil Unfälle damals weit häufiger sind als heute, trifft viele ein hartes Schicksal. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts werden in fortschrittlichen Firmen wie Rieter die Arbeiter bei schweren Unfällen oder Krankheiten finanziell unterstützt. Es gibt Betriebskrankenkassen, in welche Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam monatliche Beiträge einzahlen, um genug Geld für die finanzielle Unterstützung zur Verfügung zu haben. In vielen Fabriken gibt es aber keine Vorsorge für den Krankheitsfall oder bei Unfällen. Deshalb kämpfen die Arbeitervereine auf politischem Weg für günstige Krankenkassen und obligatorische Unfallversicherungen.


Die Arbeiterschaft in den Arbeiterquartieren der Vorortsgemeinden (Töss bei Winterthur, Aussersihl bei Zürich, usw.) hält zusammen, um gemeinsam die Lebensbedingungen verbessern zu können. Diese Solidarität zeigt sich in vielen Bereichen. In Töss gründet der Arbeiterverein einen Genossenschaftsladen. Die Genossenschaft (ein Verein für gemeinsame Interessen mit gemeinsamem Kapital) hat ein Ladenlokal gemietet, kauft Grundnahrungsmittel ein und verkauft sie zu sehr günstigen Preisen an die Mitglieder des Arbeitervereins. Der bescheidene Gewinn aus dem Verkauf wird für den weiteren Ausbau des Produktesortiments und zu Preisreduktionen verwendet. Auf dem Bild sieht man, dass das Verkaufsangebot auch alltägliche Gebrauchsgüter wie zum Beispiel Stoffe umfasst. Die Arbeiter und ihre Familien sind stolz auf ihren Laden. Gerne lassen sie sich vor dem Ladenlokal fotografieren. In Aussersihl, Töss und anderen städtischen Vororten gründen die Arbeiter eigene Vereine. So gibt es einen Arbeiter-Sängerbund, einen Arbeiter-Turnverein und einen Arbeiter-Musikverein. Dieser kann sich offensichtlich bereits schöne Uniformen leisten.


Die Genossenschaftsläden der Arbeitervereine erweisen sich als wertvolle Unterstützung für die Arbeiterfamilien. In fast allen grossen Arbeiterquartieren machen die neuen Läden den lokalen Händlern Konkurrenz. Dank den neuen Läden der Arbeitervereine können die Hausfrauen Geld sparen, da sie nicht mehr bei den meist teuren Läden der Kleinhändler einkaufen müssen. Aus den Genossenschaftsläden entwickelt sich später der Coop.


Das linke Bild zeigt ein typisches Landschulhaus (Bisikon bei Effretikon, heutiger Zustand) aus der frühen Zeit der Zürcher Volksschule. In kleinen Schulhäusern war im 19. Jahrhundert in der Regel eine Mehrklassenschule mit sechzig und mehr Kindern untergebracht. Im oberen Stock war ursprünglich die Lehrerwohnung. Die Kinder sitzen in Sechserbänken eng beieinander (im Bild rechts sind es „moderne“ Viererbänke). Wer weiter vorne sitzt, bekommt mehr vom Unterricht mit als die Hinterbänkler. Die Lehrer sind streng und körperliche Züchtigungen an der Tagesordnung. In grösseren Gemeinden gibt es auch eine Vollzeit-Sekundarschule. Diese bietet aufgeweckten Schülern die Chance, mehr zu lernen und sich für die technischen Berufe in der Maschinenindustrie vorzubereiten. Doch viele begabte Kinder aus armen Verhältnissen werden von ihren Eltern angehalten, auf dem Hof zu helfen oder in der Fabrik Geld zu verdienen. Das Bild rechts mit einer Klasse der Sekundarschule Wiedikon ist von 1922 und weist sicher bessere Raumverhältnisse auf als noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts.


Mit dem eidgenössischen Fabrikgesetz von 1877 wird die Kinderarbeit unter 14 Jahren in den Fabriken verboten. Das ist ein erheblicher sozialer Fortschritt. Doch die Situation der Spinnereiarbeiterfamilien verbessert sich dadurch wenig, da der Ausfall der Kinderarbeit auch mit einer Lohneinbusse für die Familien verbunden ist. Im Gegensatz zur Maschinenindustrie steigen die Löhne in der Textilindustrie nur langsam. Es gibt genug Arbeitskräfte, die ohne Berufslehre an den Spinnmaschinen zu niedrigen Löhnen arbeiten können. Der Anteil der Frauen in den Spinnereien ist entsprechend hoch. Die gute Idee, dass Kinder und Jugendliche neun Jahre zur Schule gehen sollen, scheitert leider mehrmals an der Urne. Erst 1899 wird eine achtjährige Schulpflicht mit täglichem Unterricht eingeführt.


Kürzere Arbeitszeiten bedeuten mehr Freizeit und mehr Freude am Leben. Im 19. Jahrhundert gibt es in den meisten Gemeinden jedoch noch keine Schwimmbäder. Man badet in den grossen Flüssen und in den Seen. Was tun, wenn kein geeignetes Gewässer in der Nähe ist? Das Bild stammt von der Töss bei einem Stauwehr oberhalb der Firma Rieter. Durch die Stauung ist das Wasser so tief, dass man an einigen Stellen schwimmen kann. Die harten Steine des Flussbodens machen aber den Einstieg ins Wasser nicht zum reinen Badevergnügen wie in einem Schwimmbad. Doch offensichtlich haben viele Spass gehabt.



Nach 1860 wachsen Zürich und die stadtnahen Vororte rasant. Die Stadt hat längst ihre Fesseln gesprengt und die meisten Schanzen mit den einengenden Verteidigungsanlagen geschleift. Die aufstrebende Industrie, Banken und Versicherungen schaffen neue Arbeitsplätze und ziehen Personen aus dem ganzen Kanton und weiteren Regionen an. 1864 bezieht die ETH ihr neues Hauptgebäude, welches nun dem Stadtbild einen neuen Akzent gibt (am linken Bildrand über der Stadt). Ausgeführt wird das Projekt nach Plänen des grossen Architekten Gottfried Semper. Neue Eisenbahnlinien nach Zug und Luzern sowie ein stärkeres Verkehrsaufkommen auf allen Bahnstrecken führen zu einer akuten Raumnot im viel zu kleinen Bahnhof. Alfred Escher blickt weit in die Zukunft. Er will für Zürich und seine Nordostbahn den grössten und prächtigsten Bahnhof der Schweiz schaffen. In Zürich sollen die ankommenden Fahrgäste bereits beim Bahnhof merken, dass sie in einer grossartigen Stadt angekommen sind.


Das Bild zeigt die prosperierende Stadt Zürich und die noch selbständigen Vorortsgemeinden im Jahr 1884. Der Künstler hat das Bild von Höngg aus mit Blick gegen den Zürichsee und die Alpen gemalt. Im Vordergrund führt die Nordostbahn von Wipkingen her über die Limmat und den hohen gebogenen Damm zum neuen Bahnhof von 1870. Die Wannersche Halle ist gut erkennbar. Links über der Stadt thront das neue eidgenössische Polytechnikum (heutige ETH). Mitte rechts sieht man das Häusermehr der Arbeiterstadt Aussersihl. Diese Gemeinde hat bereits mehr Einwohner als die Altstadt von Zürich. Finanziell sind die meisten Vorortsgemeinden nicht auf Rosen gebettet und suchen deshalb den Anschluss an die Stadt Zürich. Oberhalb des Wipkinger Viadukts direkt an der Limmat sind Fabriken zu sehen. Die grosse Maschinenfabrik Escher Wyss hat ihren Standort aber noch beim Neumühlequartier an der Limmat nahe beim Hauptbahnhof. Erst 1892 verlegt die Firma ihren Standort ins Industriequartier beim grossen Bahndamm.


In Zürich verkehrt ab 1882 das Rösslitram. In der ganzen Altstadt und den nahen Vororten sind die von einem Pferd gezogenen Tramwagen unterwegs. Es sind vor allem die wohlhabenden Bürger der Stadt, welche das Rösslitram benützen. Ein wichtiger Kreuzungspunkt ist der Paradeplatz, wo vier Tramlinien zusammenkommen. 1890 zählt die Stadt 28 000 Einwohner, während in den Vororten 70 000 Menschen leben. Vororte und Stadt sind aufeinander angewiesen. Die Stadt ist das Handels- und Industriezentrum (Escher Wyss am Neumühlequai), die Vororte sind der Wohnort vieler Arbeiter. Doch finanziell sind die grösseren Vororte wie Aussersihl schlecht gestellt. Für eine gute Infrastruktur (Schulen, usw.) fehlt das Geld. Die Unterschiede zwischen Aussersihl und der Zürcher Altstadt sind enorm. Das schöne Bild mit der Häuserzeile an der Limmat lässt vergessen, dass einen Kilometer weiter westlich die weniger schönen Häuser der Aussersihler Arbeiterquartiere stehen. 1893 kommt es zur Bildung von „Gross-Zürich“ mit der Eingemeindung der stadtnahen Vororte.


Die Gemeinden rund um die Städte Zürich und Winterthur wachsen als Folge der sich entwickelnden Industrie rasant. Gegen Ende des 19. Jh. hat die Gemeinde Aussersihl bereits mehr Einwohner als die Stadt Zürich. In Aussersihl leben vor allem Arbeiter, die in der nahegelegenen grossen Maschinenfabrik Escher Wyss ihren Beruf ausüben. Sie können ihren Arbeitsplatz in kurzer Zeit erreichen. Die Fotografie zeigt die Rückseite der bescheidenen Unterkünfte von Arbeiterfamilien in Aussersihl. Die Häuser sind eng zusammengebaut und wirken wenig einladend. Anders als bei den Spinnereiarbeitern sind die gelernten Arbeiter der Maschinenindustrie aber bereit, für bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten zu kämpfen. Sie halten gut zusammen und können so einiges erreichen. Dabei wird auch das Kampfmittel des organisierten Streiks eingesetzt. Um mehrtägige Streiks durchhalten zu können, zahlen in Gewerkschaften organisierte Arbeiter während Jahren ein paar Prozente ihres Lohns in eine gemeinsame Streikkasse. Aus dieser erhalten die Streikenden bei einer Arbeitsniederlegung etwas Geld für den täglichen Lebensunterhalt.


Die Familie mit den beiden Kindern hat wenig Platz. Die beiden Kinder müssen in der Stube schlafen. Dennoch sieht das Bild nach geordneten Verhältnissen aus. Die Mutter hantiert beim Ofen, während der Vater in der Bildmitte Pfeife rauchend in die Kamera blickt. Auffallend ist, dass die Kinder mit einem Schulbuch in der Hand fotografiert worden sind. Zusammen mit dem offensichtlich stolzen Vater drückt dies wohl aus, dass die Familie an die Zukunft der nächsten Generation glaubt. Die Kinder sollen und werden es besser haben. Noch gibt es kein elektrisches Licht in der Wohnung. Vermutlich hat man aber bereits fliessendes Wasser im Haus und muss das Wasser nicht mehr am Brunnen holen.


Das Bild entstand in der Nähe des Hauptbahnhofs. Für die Dampflokomotiven brauchte es grosse Mengen an Kohle, die bei den Lokomotivdepots gelagert wurde. Dort lagen Kohlereste herum, die von Arbeiterkindern gesammelt wurden. Der Junge auf dem Bild scheint in seiner stolzen Haltung so etwas wie das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft auszudrücken. Zuhause wurden die Stube mit einem Holz- oder Kohleofen sowie die Küche mit dem Kochherd im Winter geheizt. In den übrigen Räumen stand in der Regel kein Ofen. Kohlebetriebene Zentralheizungen gab es nur in grossen Gebäuden wie in Schulhäusern oder Museen.


Die Karikatur zeigt den rüden Umgang eines satten Fabrikherrn mit zurückhaltenden Vertretern der Arbeiterschaft. Die Zeichnung stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der Direktor besitzt bereits ein Telefon und vor dem Fenster sind elektrische Leitungen zu sehen. Doch die Zeiten werden sich bald ändern. Noch vor 1914 kommt es zu heftigen Arbeitskämpfen in Industrie und Baugewerbe. Die Gewerkschaften rufen zu Streiks auf und fordern mit Nachdruck mehr Lohn.


In der Zürcher Altstadt dominiert das bürgerliche Leben. Man grenzt sich ab von den Industriearbeitern in Aussersihl und ist stolz, dem Bürgertum anzugehören. Das Bürgertum besteht aus Kleinunternehmern wie Bäcker, Metzger, Schreiner oder Druckern. Auch die Kaufleute bilden einen wichtigen Teil des Bürgertums. In guten Zeiten erwerben sie einen gewissen Reichtum und können sich im Leben einiges leisten. Bürgerinnen und Bürger kaufen beim Detailhändler mit seinem reichen Warensortiment ein. Sie wohnen in einer schönen Stadtwohnung mit Balkon, hohen Zimmerdecken und grossen Fenstern. Wer Freude hat an der Kunst, besucht das Opernhaus oder die Tonhalle. Viele Bürger lesen die NZZ und sind oft gut gebildet. Ihre Kinder schicken sie wenn möglich ins Gymnasium oder in eine Handelsschule. Bürger wählen in der Regel freisinnig. Sie wehren sich gegen hohe Steuern und wollen nicht, dass sich der Staat zu sehr in ihr Leben einmischt. Das grosse Fest des Stadtzürcher Bürgertums ist das Sechseläuten. Es beschwört die Tradition des Gewerbes und des Kleinhandels.


Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nimmt die Zahl der Industriearbeiter stark zu. Gewerkschaften und Arbeiterparteien werden gegründet, welche für die Rechte und einen höheren Lohn der Arbeiter eintreten. Bei den Arbeitern entsteht ein eigentliches Klassenbewusstsein. Viele fühlen sich als „ausgenützte Proletarier“. Starke Arbeiterführer und mutige Frauen tun viel dafür, um die Situation der Arbeiter zu verbessern. So gründen sie Konsumvereine, wo Arbeiterfrauen günstig einkaufen können. Sie führen eine gemeinsame Streikkasse, um längere Streiks durchstehen zu können und informieren sich im „Volksrecht“ über politische Angelegenheiten. Um den Zusammenhalt unter den Arbeitern zu fördern, gestalten sie die knappe Freizeit oft gemeinsam. Sie machen Musik in der Arbeitermusik oder gehen in den Arbeiterturnverein (SATUS: Schweizerische Arbeiter-Turn- und Sportverband). Es gibt auch Arbeiter-Schützenvereine und den Arbeiter-Sängerbund. Auf dem Bild sieht man links zwei Gewerkschaftsvertreter. Der schmale Vertreter gehört einer christlichen Gewerkschaft an, während der mit der Faust auf den Tisch schlagende Arbeiter ein Vertreter der grossen Gewerkschaft SGB (Schweizerischer Gewerkschaftsbund) ist.


Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird in vielen Ländern der 1. Mai als Tag der Arbeit gefeiert. Vielerorts wird an diesem Tag für kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne demonstriert. Auch in Zürich versammeln sich die Arbeiter und ziehen mit Spruchbändern durch die Strassen von Aussersihl. Organisiert werden die Demonstrationszüge von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei. Die Demonstrationen lösen bei den Bürgern in der Stadt zum Teil Ängste und Abwehrreaktionen aus. Deshalb kommt es zu verschärften politischen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum. Heute ist der 1. Mai in den meisten Kantonen ein offizieller Feiertag.


Noch vor dem Ersten Weltkrieg bilden sich zwei Strömungen innerhalb der politisch aktiven Arbeiterschaft. Die grosse Mehrheit der Schweizer Arbeiterschaft wünscht sich einen demokratischen Prozess, um die Rechte der Arbeiter zu stärken. Gewalt durch eine Revolution wird abgelehnt. Eine Minderheit aber will nicht mehr länger warten und arbeitet auf einen Umsturz hin. Unter dem Einfluss von ausländischen Revolutionären, die sich zeitweise in der Schweiz aufhalten, entstehen auch radikale kommunistische Parteien in unserem Land. Spannungen bestehen deshalb nicht nur zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterschaft, sondern auch innerhalb der linken Szene.


Robert Grimm war 1899 der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz beigetreten. Von Beruf war er Buchdrucker, der auf Handwerks-Wanderschaft Europa bereist hatte. Während des Ersten Weltkriegs organisierte er die berühmten Konferenzen von Zimmerwald und Kiental, bei welchen Sozialisten und Kommunisten aus halb Europa den gemeinsamen Kampf für eine neue Gesellschaftsordnung planten. Er setzte sich dafür ein, dass die internationale Arbeiterschaft zusammenstehen und den sinnlosen Krieg beendigen müsse. Obwohl er 1917 Lenins Reise von Zürich nach St. Peterburg mitorganisiert hatte, verstand er sich mit dem russischen Revolutionär nicht gut. 1918 war Grimm die treibende Kraft des Oltener Komitees, welches den Generalstreik ausrief. Grimm sass von 1911 bis 1955 (mit einem Jahr Unterbruch im Jahr 1920) als Arbeitervertreter im Nationalrat. 1935 vollzog die SP unter seiner Führung eine politisch bedeutsame Wende. Im neuen Parteiprogramm machte die Partei eine Absage an die proletarische Diktatur und sagte ja zur Schweizer Armee.


Zu Beginn des Ersten Weltkriegs treten die sozialen Spannungen für kurze Zeit in den Hintergrund. Der Wille, unser Land im Notfall zu verteidigen, ist auch in der Arbeiterschaft grösstenteils vorhanden. Doch für die meisten Familien ist die Zeit des Aktivdiensts eine grosse Belastung, wenn der Vater im Militär ist und keinen Lohn erhält. Einen Lohnersatz gibt es nicht. Die Soldaten erhalten nur einen Sold von wenigen Franken pro Tag. Damit lässt sich keine Familie ernähren. Viele Familienväter leisten daher nur noch sehr widerwillig ihren Dienst. Spannungen entstehen aber auch innerhalb der Armee. Zwischen Offizieren und der Mannschaft besteht eine grosse Distanz. Bei der Truppe herrscht preussischer Drill vor, der manchen Arbeitern fragwürdig scheint. Soldaten ohne höhere schulische Ausbildung werden nicht für die Offizierslaufbahn vorgeschlagen. Deshalb besteht die militärische Führung fast ausschliesslich aus Offizieren aus bürgerlichen Kreisen. Auf dem Bild exerzieren Soldaten im Laufschritt in Viererkolonne. Sie tragen Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett und sind winterlich gekleidet. Der Stahlhelm ist noch nicht eingeführt, er wird erst gegen Ende des Krieges an die Truppe abgegeben.


Um Hungersnöte zu vermeiden, sehen sich die Behörden gezwungen, die Bevölkerung mit günstigen oder gratis abgegebenen Nahrungsmitteln zu versorgen. Vor dem Ersten Weltkrieg hat die Schweiz das allermeiste Getreide aus den USA bezogen. Auch während des Krieges sind wir auf Importe angewiesen. Trotz Verhandlungen mit den produzierenden Ländern gehen die Importe aber stark zurück. In den Dörfern und Städten werden Supppenküchen eingerichtet, wo Kinder und Erwachsene in Milchkesseln eine warme Suppe abholen können. Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln oder Milch werden durch staatliche Verteilorganisationen stark verbilligt an die Bevölkerung abgegeben. Doch die Ernährungslage der Bevölkerung verschlechtert sich weiter, nachdem weltweite Missernten 1916 und 1917 zu Engpässen beim Getreide und bei den Kartoffeln geführt haben.


Als Wladimir Lenin im Sommer 1914 in Österreich weilt, wird er vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht. Er flüchtet in die Schweiz und bleibt dort bis 1917. Ein gutes Jahr lang lebt er als unauffällige Person an der Spiegelgasse in Zürich. Er bezieht Bücher von der Zentralbibliothek und studiert die Literatur von Marx, Engels und andern Kommunisten. Im Geheimen schmiedet er einen Plan für eine grosse Revolution in Russland. Er steht auch im ständigen Briefwechsel mit anderen russischen Emigranten. Nachdem sich 1917 die militärische und wirtschaftliche Lage in Russland dramatisch verschlechtert, hält er die Zeit reif für einen Umsturz. Dank der Hilfe von Schweizer Arbeiterführern (Fritz Platten, Robert Grimm) erhält Lenin die Erlaubnis, im Frühjahr 1917 in einem plombierten Zug durch Deutschland zu fahren und weiter über Schweden und Finnland nach Russland zu gelangen.


Im April 1917 kommt Lenin in St. Petersburg an. Dort hat eine bürgerliche Regierung unter Kerensky den Zaren abgesetzt und die Macht übernommen. Da die neue Regierung den verlustreichen Krieg gegen Deutschland weiterführt, agieren Lenin und seine Kommunisten gegen das Regime. Lenin wird im Sommer 1917 von Kerensky verfolgt und muss sich zeitweise ins russische Finnland zurückziehen. Als die militärische Lage für Russland immer schlechter wird und die Truppen zu meutern beginnen, sieht Lenin den Zeitpunkt für die grosse Revolution gekommen. Im Oktober 1917 (eigentlich November nach unserem Kalender) schlagen die Kommunisten zu. Sie übernehmen in einer schnellen Aktion die Gewalt im Staat. Schon während des Bürgerkriegs von 1918 bis 1922 zwischen der kommunistischen Regierung und bürgerlichen Gegnern wird Russland völlig umgestaltet. Lenin lässt den Grundbesitz verstaatlichen und führt die Planwirtschaft ein. Wer sich widersetzt, kommt in Zwangslager oder wird umgebracht. Lenin ist der unbestrittene Führer der Revolutionsregierung. Ihm zur Seite stehen der blitzgescheite Trotzky und der brutale Stalin. Dieser wird nach dem Tod Lenins im Jahr 1924 die Macht an sich reissen.


Seit der Revolution stand die Zarenfamilie unter Hausarrest der Kommunisten. Im Sommer 1918 wurde die Familie nach Jekaterinburg verlegt. Als die Gefahr bestand, dass die Weissen Truppen (Gegner der Roten Armee im russischen Bürgerkrieg) in die Stadt einmarschieren würden, beschloss Lenins Regierung, die ganze Zarenfamilie umzubringen. Der Zar, seine Frau und ihre fünf Kinder werden in einen Keller geführt. Dann erschiessen Soldaten der Roten Armee die ganze Familie. Auch Bedienstete und Verwandte des Zaren werden erschossen. Als die Ermordung der Zarenfamilie im Westen bekannt wird, herrscht Entsetzen über die Brutalität der Kommunisten.


Die Kommunisten in Russland sprechen offen davon, dass sie eine kommunistische Weltrevolution auslösen möchten. Die Zeit des gierigen Kapitalismus sei abgelaufen. Das Bild links zeigt einen Arbeiter, der die Ketten der kapitalistischen Abhängigkeiten (hohe Zinsen, extreme Gewinne für einzelne) zerrissen hat und die Revolutionsfahne in die Welt hinausträgt. In Arbeiterkreisen verfolgt man das Geschehen in der Sowjetunion mit grösstem Interesse. Kann die Revolution in Russland auch ein Vorbild für einen gesellschaftlichen Umbau der Schweiz sein? Schweizer Arbeiterführer erkennen aber bald, dass der sowjetische Kommunismus nicht Gerechtigkeit, sondern neue Formen der Unterdrückung und Gewalt schafft. Spätestens nach dem Besuch einiger Schweizer Arbeiterführer in Russland herrscht bei den Sozialdemokraten Ernüchterung über das Geschehen im Osten. Im Bürgertum ist die Ablehnung der kommunistischen Revolution gross. Viele sind der Auffassung, dass die gefährlichen Ideen Lenins auch in der Schweiz auf offene Ohren stossen könnten. Bei manchen Bürgern herrscht eine schon fasst panikartige Angst vor einem politischen Umsturz in unserem Land.


Ein kleiner Teil der Arbeiterführer in der Schweiz will nicht auf Gewalt verzichten, um die sozialen Ziele zu erreichen. Sie finden es in Ordnung, dass in der Sowjetunion ab 1917 eine Diktatur durch die kommunistische Führung herrscht. Viele Schweizer Kommunisten sind überzeugt, dass die sowjetische Diktatur nur ein vorübergehender Zustand ist. Der Kapitalismus lasse sich nur durch ein radikales Vorgehen überwinden. Aber danach würde alles besser. Die Mehrheit der Schweizer aber sieht das nicht so und ist über die Gewaltherrschaft der Kommunisten empört. Aus Russland zurückgekehrte Genossen berichten, wie brutal dort Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden und wie hart die kommunistische Regierung mit ihren Gegnern umgeht. Innerhalb der Arbeiterparteien verlieren die Kommunisten nach der anfänglichen Begeisterung für den Umsturz in Russland allmählich an Einfluss.


Nach den weltweit schlechten Ernten 1916 und 1917 sinken die Importe von Getreide aus dem Ausland. Die Grundnahrungsmittel werden deshalb knapp. Die kriegführenden Mächte haben selber Mühe, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen (Ausnahme USA). In der Folge steigen bei uns die Preise für Brot und andere Nahrungsmittel enorm. Viele Familien haben kaum noch genug zu essen. Im Sommer 1918 spitzt sich die Lage zu. Um einer Hungersnot in weiten Teilen zu verhindern, werden Volksküchen eingerichtet, wo die arme Bevölkerung preisgünstige Mahlzeiten einnehmen kann. Zudem gibt es staatlich gelenkte Aktionen zur Abgabe verbilligter Kartoffeln.


Die knappe Lebensmittelversorgung führt zu Unruhen bei der Arbeiterschaft. Der fehlende Lohnersatz schürt die Unzufriedenheit. Der Militärdienst wird als grosse Belastung empfunden, da die Väter als Soldaten nicht für die wirtschaftliche Sicherheit ihrer Familien sorgen können. Statt für ein rechtes Einkommen in der Fabrik oder auf dem Hof zu arbeiten, verbringen die Soldaten lange Tage im Schützengraben oder in der Militärunterkunft. In Arbeiterkreisen wird der Weltkrieg immer mehr als sinnloses Blutvergiessen gesehen. Man fragt sich, wie diesem Morden endlich Einhalt geboten werden kann. Belastend ist die Situation vor allem für die Mütter der meist kinderreichen Familien. Sie besitzen kaum Haushaltgeld und versuchen, für die Kinder etwas auf den Tisch zu bringen. Um die Lebensmittel gerechter verteilen zu können, werden Lebensmittelmarken an die Bevölkerung abgegeben. Viele Grundnahrungsmittel können nur noch mit Lebensmittelmarken (zusammen mit dem Kaufbetrag) gekauft werden. Erschwerend kommt hinzu, dass im Sommer 1918 die gefährliche Spanische Grippe die Schweiz erreicht. Dieser Pandemie fallen in unserem Land mehr als 24 000 Menschen – häufig junge Männer – zum Opfer.


Am 11. November 1918 unterzeichnen Franzosen und Deutsche den Waffenstillstand von Compiègne. Damit ist der Erste Weltkrieg faktisch zu Ende. In Deutschland ist die Lage konfus. Linke Kräfte versuchen, an die Macht zu kommen. Es ist offen, ob die Kommunisten Erfolg haben werden oder von der neuen sozialdemokratischen Regierung in die Schranken gewiesen werden können. In dieser unruhigen Lage beschliessen gemässigte und radikale Schweizer Arbeiterführer des Oltener Komitees die Ausrufung eines Generalstreiks, falls nicht noch in letzter Minute eine Einigung mit dem Bundesrat erzielt würde. Bei einem Scheitern der Verhandlungen sollte ab dem 12. November die Arbeit in allen Industriebetrieben eingestellt werden und auch die Bahnen sollten nicht mehr verkehren. Der Streik soll so lange dauern, bis die wichtigsten Forderungen der Arbeiterschaft auch von bürgerlicher Seite unterstützt werden.


Ein grosser Unruheherd war die Stadt Zürich. Schon vor dem Generalstreik gab es mehrere grosse Streiks in der Stadt. Anfangs November hatte der Zürcher Regierungsrat den Bundesrat um Unterstützung durch das Militär gebeten, weil er einen Aufstand der organisierten Arbeiterschaft befürchtete. Der Bundesrat schickte Kavallerietruppen in die Stadt und beauftragte Oberst Sonderegger mit dem Kommando. Doch dieser war ein Scharfmacher, der Öl ins Feuer goss. Er rüstete die Soldaten mit Handgranaten aus und befahl ihnen, diese einzusetzen, falls auf sie geschossen würde. Nun kommt es zu heftigen Protestkundgebungen in der Stadt. Die Lage wird immer gefährlicher. Als die Verhandlungen zwischen den Schweizer Arbeiterführern (Oltener Komitee) und dem Bundesrat abgebrochen werden, bleibt dem Komitee nur noch der Entscheid, mit einem schweizweiten Generalstreik den Kampf weiterzuführen.

Treibende Kraft bei der Ausrufung und Organisation des Generalstreiks ist das 21 Mitglieder zählende Oltener Komitee. Dieses besteht aus den führenden Köpfen der Schweizer Arbeiterschaft. Im Komitee vertreten sind Gewerkschaftsführer, Nationalräte der Sozialdemokraten und anderer linker Parteien. Nach den Unruhen in Zürich und dem Abbruch der Verhandlungen mit dem Bundesrat beschliesst das Komitee an einer Tagung in Olten, einen Generalstreik für die ganze Schweiz auszurufen. Zudem werden klare politische Forderungen gestellt. Diese sind aus heutiger Sicht grösstenteils berechtigt und keineswegs extrem. Radikal ist höchstens die Forderung, dass deren Umsetzung möglichst bald geschehen müsse. Die rasche Umsetzung gilt besonders für das Proporzwahlsystem, das bereits in einer Volksabstimmung gutgeheissen wurde. Deshalb sollten vorgezogene Nationalratswahlen nach dem Proporzwahlsystem durchgeführt werden. Ein Blick in die damalige Zukunft: Die 48-Stunden-Woche wird in den Zwanzigerjahren weitgehend realisiert. Die AHV hingegen wird erst 1948 und das Stimmrecht für Frauen sogar erst 1971 eingeführt werden.

Der Bundesrat tritt in aller Eile zusammen und ist entschlossen, das Oltener Komitee in die Knie zu zwingen. Er lehnt die Forderungen des Streikkomitees ab und fordert den bedingungslosen Abbruch des Streiks. Um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, bietet der Bundesrat das Militär auf. Schon am ersten Streiktag rücken 95 000 Mann ein, davon 20 000 in Zürich und 12 000 in Bern. Die Militärführung vertraut auf Truppen aus der Landschaft, wo nur wenige Arbeiter als Soldaten Dienst leisten. Truppen aus Industrieregionen gelten als weit weniger verlässlich, da sie die Anliegen des Streikkomitees vermutlich unterstützen. Wichtige Plätze, Strassen und Bahnhöfe in den grösseren Städten werden vom Militär bewacht. Man will gewalttätige Aktionen der Streikenden durch die militärische Präsenz zum Vornherein verhindern. Die Soldaten sind bewaffnet und könnten im Notfall von der Schusswaffe Gebrauch machen. Auf dem Bild versammeln sich Truppen auf einem Platz in der Stadt Bern.

In Grenchen kommt es am dritten Streiktag zu einem Scharmützel zwischen Soldaten und den Streikenden. Es fallen Schüsse, die zum Tod von drei jungen Uhrmachern führen. Wer am Tod der drei jungen Männer schuld war, konnte nicht geklärt werden. Die Bretter auf den Gleisen machen deutlich, dass der Bahnbetrieb eingestellt ist.

Der Bundesrat will kein Risiko eingehen. Er lässt das Bundeshaus durch bewaffnete Truppen bewachen. Die Soldaten tragen neu einen Stahlhelm (Abgabe an die Truppe ab Januar 1918). Sie haben den Befehl, das Bundeshaus zu verteidigen, falls revolutionäre Arbeiter das Gebäude stürmen wollen. Die Streikleitung sieht ein, dass die Situation gefährlich wird. Das Komitee hat nicht mit der unnachgiebigen Haltung des Bundesrats gerechnet. Vielmehr glaubte man, es würde zu Verhandlungen kommen.


Wichtig für die Wirtschaft ist die Wiederinbetriebnahme der SBB. Solange die Bahnen nicht verkehren, schadet das den Industriebetrieben enorm. Der Bundesrat gibt deshalb dem Militär den Befehl, für den Zugbetrieb zu sorgen. Lokomotivführer werden ins Militär aufgeboten und von Soldaten gezwungen, die Lokomotiven zu übernehmen. Auf diese Weise kann ein Notfahrplan aufrechterhalten werden. In den Städten werden auch die bürgerlichen Zeitungsredaktionen bewacht und die Verteilung der Zeitungen durch das Militär sichergestellt. Fragwürdige Bürgerwehren unterstützen dabei die Arbeit des Militärs.


Der Bundesrat stellt dem Oltener Komitee ein Ultimatum, den Streik sofort abzubrechen. Sonst werde das Militär gegen die Streikenden vorgehen. Im Oltener Komitee ist man nicht bereit, einen Bürgerkrieg zu riskieren. Deshalb wird nach drei Tagen der Generalstreik abgebrochen. Die meisten Arbeiter sind enttäuscht über die Nachgiebigkeit des Komitees. Sie beschimpfen die Mitglieder des Komitees als Verräter. Aber schliesslich setzt sich die Einsicht durch, das der Streikabbruch eine Katastrophe verhindert hat. Nach dem Abbruch kommt es zu Anklagen gegen die führenden Mitglieder des Oltener Komitees. Bei den Verhandlungen zeigt sich, dass der Streik nicht durch fremde Mächte (russische Revolutionäre, usw.) unterstützt worden ist. Robert Grimm und Fritz Platten werden zu je einem halben Jahr Gefängnis verurteilt, der spätere SP-Bundesrat Ernst Nobs erhält eine vierwöchige Gefängnisstrafe. Der abgebrochene Generalstreik vertieft den Graben zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft enorm. Dieser Riss bleibt bestehen bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Erst als Gefahr von aussen droht, nähern sich die beiden Lager wieder an.


Der Generalstreik bleibt nicht ohne rasche Folgen. Das vom Volk bereits beschlossene Proporzwahlsystem wird bei den vorgezogenen Nationalratswahlen erstmals angewandt. Die Wahlen werden vorgezogen, weil im bisherigen Nationalrat die gesellschaftliche Struktur der Bevölkerung verzerrt abgebildet ist. Man erhofft sich so einen Abbau der grossen sozialen Spannungen zu Beginn der Zwanzigerjahre. Das Interesse an den Nationalratswahlen ist enorm. Die Stimmbeteiligung erreicht fast 81 Prozent, was einen absoluten Rekord bei eidgenössischen Wahlen bedeutet. Das bisherige Majorzsystem gab der stärksten Partei eines Wahlkreises jeweils sämtliche Sitze. Auf diese Weise hatte bereits die zweitstärkste Partei das Nachsehen. So konnten die Sozialdemokraten nur in den eigentlichen Arbeiterquartieren wie Aussersihl zum Erfolg kommen. In den kleineren Städten und den Landgemeinden hingegen waren die Arbeiterparteien in der Regel nicht stark genug, um stärkste Partei eines Wahlkreises zu werden. Mit der Proporzwahl erobern nun auch mittlere und kleinere Parteien Sitze in den einzelnen Wahlkreisen. Der Wählerwille kommt im neuen Parlament von 1919 deshalb viel besser zum Ausdruck.


Die Proporzwahl von 1919 bringt Im Nationalrat gewaltige Sitzverschiebungen zugunsten der Sozialdemokraten und der SVP (damals Bauern- und Bürgerpartei). Verlierer sind die Freisinnigen, welche die absolute Mehrheit im 189 Mitglieder zählenden Nationalrat einbüssen. Aufgrund der Parteienstärke hätte die Sozialdemokratische Partei Anspruch auf zwei Bundesräte gehabt. Doch die Zeit für die Zauberformel für einen Bundesrat mit linker Beteiligung ist noch nicht reif. Die Bürgerlichen verfügen nach wie über eine solide Mehrheit im Parlament und trauen den Sozialdemokraten nicht zu, dass diese verantwortungsvoll mitregieren wollen. Die Erinnerungen an den Generalstreik und die Spannungen zwischen den Gesellschaftsschichten sind noch viel zu stark. Erst 1943 wird mit Ernst Nobs der erste Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt. Im Ständerat, der aufgrund der Zweiervertretungen aus den Kantonen den Kandidaten kleinerer Parteien kaum Wahlchancen bietet, bleibt die Dominanz der FDP im Jahr 1919 weiter bestehen. Die kleine Kammer kann deshalb bei der Gesetzgebung bürgerliche Anliegen mit Erfolg verteidigen.


Das Plakat links nimmt den revolutionären Schwung der Arbeiterschaft in den Zwanzigerjahren auf. Sozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten glauben an eine neue Gesellschaftsordnung. Mit der Ablehnung aller Militärausgaben (Friedenspolitik der SP) und den Vorstellungen von einer vorübergehenden Diktatur des Proletariats stossen die linken Parteien auf scharfe Ablehnung bei den Bürgerlichen. Politisch sind die linken Parteien auf Bundesebene völlig isoliert. FDP und Mitte (früher CVP, damals Katholisch Konservative) haben im National- und Ständerat die absolute Mehrheit und können die Anliegen der SP verhindern. – Das Wahlplakat der Freisinnigen malt die Kommunisten (Bolschewisten) als roten Teufel an die Wand. Die Darstellung kommt bei der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung gut an, da immer mehr über die Schreckensherrschaft von Lenin und seinem Nachfolger Stalin in der Sowjetunion bei uns bekannt wird. Solange sich die Linke nicht von der Vorstellung der Diktatur des Proletariats klar distanziert, wollen die Bürgerlichen keine Mitbeteiligung der Sozialdemokraten in den kantonalen Regierungen zulassen.


Mit der Proporzwahl von 1919 betritt erstmals die SVP die politische Bühne. In einigen ländlich geprägten Kantonen wie etwa in Bern wird sie eine führende politische Kraft. Die damalige SVP vertritt in erster Linie die Bauern und das Kleingewerbe. Sie sieht den Bauernstand als Rückgrat für die Selbstversorgung unseres Landes und steht zu wertkonservativen Vorstellungen. Die SVP tritt trotz der grossen Friedenssehnsucht in den Zwanzigerjahren für eine starke Landesverteidigung ein. Führender Kopf in der Berner SVP ist Rudolf Minger. 1929 wird der praktizierende Bauer als erstes SVP-Mitglied in den Bundesrat gewählt. Der populäre Minger übernimmt das Militärdepartement und versucht mit grossem Engagement die Schweizer Armee militärisch auf einen kommenden Krieg vorzubereiten.


Mit der Proporzwahl von 1919 betritt erstmals die SVP die politische Bühne. In einigen ländlich geprägten Kantonen wie etwa in Bern wird sie eine führende politische Kraft. Die damalige SVP vertritt in erster Linie die Bauern und das Kleingewerbe. Sie sieht den Bauernstand als Rückgrat für die Selbstversorgung unseres Landes und steht zu wertkonservativen Vorstellungen. Die SVP tritt trotz der grossen Friedenssehnsucht in den Zwanzigerjahren für eine starke Landesverteidigung ein. Führender Kopf in der Berner SVP ist Rudolf Minger. 1929 wird der praktizierende Bauer als erstes SVP-Mitglied in den Bundesrat gewählt. Der populäre Minger übernimmt das Militärdepartement und versucht mit grossem Engagement die Schweizer Armee militärisch auf einen kommenden Krieg vorzubereiten.


Der Erste Weltkrieg hat uns vor Augen geführt, wie stark abhängig wir von teuren Kohleimporten sind. Diese Abhängigkeit sollte künftig vermieden werden. Mit der Nutzung der Wasserkraft zur Erzeugung von elektrischer Energie bietet sich der Schweiz die Chance, günstigen Strom als Ersatz für die teure Kohle zu produzieren. An den grösseren Flüssen werden Laufkraftwerke gebaut und in den Alpen entstehen die ersten Hochdruckkraftwerke. Nach dem Ersten Weltkrieg beginnt die SBB mit der Elektrifizierung der Hauptstrecken. Innerhalb eines Jahrzehnts werden sämtliche wichtigen Bahnlinien auf elektrischen Betrieb umgestellt. Damit ist die Schweiz bei der Elektrifizierung ihrer Bahnen europaweit an der Spitze. Das Bild zeigt eine ganz neue Ae 3/6 mit Kuppelstangenantrieb beim Bahnhof Kempttal vor der Suppenfabrik Maggi.


Für die elektrifizierte Gotthardbahn (1919) braucht die SBB starke elektrische Lokomotiven. Die Schweizer Lokomotivindustrie bekommt den Auftrag, eine leistungsstarke Maschine zu bauen. Mit der Ce 6/8 gelingt es der SLM in Winterthur und der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) eine prächtige Güterzugslokomotive zu bauen. Die mechanischen Teile der Maschine werden in Winterthur hergestellt, die elektrische Ausstattung in Oerlikon. Die grüne Lokomotive mit Schrägstangenantrieb wird unter dem Namen Krokodil in die Eisenbahngeschichte eingehen. Die Zeichnung zeigt ein Krokodil vor der MFO in Oerlikon.


Schon während des Ersten Weltkriegs wurde das rechts oben abgebildete Kraftwerk Eglisau gebaut. In Industrie und Gewerbe hält die Elektrizität überall Einzug. Der Coiffeur benützt jetzt einen elektrischen Rasierapparat und der Coiffeursalon verfügt über eine elektrische Beleuchtung. Selbst in bescheidenen Wohnverhältnissen brennt jetzt in der Stube und in der Küche eine elektrische Lampe. Mancherorts wird auch elektrisch gekocht.


Die Schweizer Industrie erlebt in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre eine Blütezeit. Das Bild zeigt die riesigen Industrieanlagen der Firma Sulzer in der Nähe des Bahnhofs Winterthur. In Zusammenarbeit mit dem deutschen Ingenieur Rudolf Diesel entwickelte Sulzer 1898 einen ersten Dieselmotor. Die neuen Motoren ersetzen nach und nach die Dampfmaschinen auf den grossen Schiffen. Sulzer wird im 20. Jahrhundert zum weltweit führenden Hersteller grosser Dieselmotoren.


Trotz des Einzugs der Elektrizität in Industrie und Haushalte, bleibt die Arbeit der Mütter hart. Während in den USA bereits elektrische Geräte wie Kühlschränke oder elektrisch angetriebene einfache Waschmaschinen weit verbreitet sind, bleibt bei uns das Waschen anstrengende Handarbeit. Auf dem Bild wird in einem geheizten Waschkessel die von Hand vorgewaschene Wäsche gekocht. Die Mutter schliesst den Deckel, nachdem sie die Wäsche eingefüllt hat. Zu ihrem Schutz trägt die Frau eine wasserundurchlässige Schürze. Von Zeit zu Zeit befördert sie die gekochte Wäsche mit einem ruderartigen Holzgerät in ein grosses Waschbecken, wo die einzelnen Wäschestücke mehrmals kalt gespült werden. Der Waschtag ist für die Mütter kinderreicher Familie eine grosse Herausforderung. Oft steht die Mutter dabei fast den ganzen Tag im Waschhaus. Sie arbeitet in der dampfenden Waschküche und hängt die Wäsche danach im Trocknungsraum auf. Dazwischen sorgt sie dafür, dass auch noch etwas zum Essen auf dem Tisch steht.


In den Zwanzigerjahren fördern die Städte Zürich und Winterthur den Bau von genossenschaftlichen Wohnungen im grossen Stil. Ab 1924 unterstützt die Stadt Zürich den sozialen Wohnungsbau durch stark verbilligte Hypotheken. Ziel ist es, Arbeiterfamilien grössere Wohnungen zu einem erschwinglichen Mietpreis zur Verfügung zu stellen. 1928 erlangt die Linke die Mehrheit im Zürcher Stadtrat. Die städtische Politik kümmert sich speziell um sozial Benachteiligte, ohne jedoch extreme sozialistische Experimente durchzuführen. So wird das Sozialamt (damals Wohlfahrtsamt) geschaffen. Bedürftige Familien erhalten finanzielle und materielle Unterstützung, damit sie sich das Nötigste für den Lebensunterhalt leisten können. Kinder erhalten Kleider und neue Schuhe, wenn die Eltern das Geld dafür nicht aufbringen können. Die Bewährungsprobe für die linke Stadtregierung kommt in den Krisenjahren der Dreissigerjahre, wo es ohne eine höhere Verschuldung des städtischen Haushalts nicht mehr geht.


Als einer der ersten Unternehmer in Europa setzt Gottlieb Duttweiler Ford-Automobile in grosser Zahl für den Verkauf seiner Produkte ein. Das Verkaufspersonal kann durch Herunterklappen der Seitenwände einen Verkaufstisch installieren und gängige Produkte zu Migros-Preisen verkaufen. Nach etwa einer Stunde Halt klappen die Verkäufer die Tische hoch und fahren weiter ins nächste Dorf. Die günstigen Produkte der Migros-Verkaufswagen sind eine ungeliebte Konkurrenz für die ortsansässigen Läden. Das führt auch zu politischen Auseinandersetzungen. Doch Duttweiler bleibt hartnäckig und erkämpft sich nach und nach mehr Freiheiten für den Verkauf seiner Produkte. In einigen Kantonen eröffnet „Dutti“ die ersten Verkaufsläden.


In den grösseren Städten wird das Tram in den Zwanzigerjahren zum erschwinglichen Massenverkehrsmittel. Während in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die meisten Arbeiter zu Fuss oder mit dem Velo zur Arbeit gingen, benützen viele jetzt das Tram. Das Bild zeigt den Tramknotenpunkt beim Bahnhofplatz in Winterthur. Hier kommen alle städtischen Tramlinien zusammen. Blick in die damalige Zukunft: 1951 werden die letzten Winterthurer Tramlinien auf Trolleybusbetrieb umgestellt.



Die Zwanzigerjahre sind geprägt von einem starken Wirtschaftsaufschwung in den USA. Viele Amerikaner können sich bereits ein Auto leisten und glauben, dass der Wirtschaftsboom noch lange weitergehen wird. Der Kauf von Aktien an den Börsen steht jedermann offen und wird rege genutzt. Der intensive Aktienhandel treibt die Aktienkurse in schwindelnde Höhen. Da viele Aktien überbewertet sind, wächst die Gefahr eines Absturzes. Als sich erste Anzeichen einer Überproduktion von Waren (Autos, Elektrogeräte, usw.) bemerkbar machen, kommt der New Yorker Aktienhandel ins Stocken. Im Oktober 1929 kommt es zu einem dramatischen Kurssturz an der Wallstreet in New York. Es kommt zu panikartigen Aktienverkäufen, die den Verfall der Wertpapiere noch beschleunigen. Die Leute eilen zu den Banken und wollen ihr Erspartes abheben. Schon nach kurzer Zeit sind viele Geldinstitute pleite. In den nächsten drei Jahren geht der Abwärtstrend an den Börsen unvermindert weiter. Die Wirtschaft stellt auf Kurzarbeit um und viele Betriebe machen Konkurs.


Die Schwarz-Weiss-Fotos zeigen verzweifelte Menschen in den ersten Tagen des Kurssturzes an der Wallstreet in New York. Die geschockten Händler eilen durch die Strasse. Einer versucht sein neues Auto rasch zu verkaufen, um wieder etwas Geld in der Tasche zu haben. Das Farbbild erlaubt uns einen Blick auf den ordentlichen Geschäftsgang am Börsenring der Zürcher Aktienbörse (noch vor der Einführung des elektronischen Handels). Die Börsenmakler bieten am Ring Aktien zum Verkauf an. Sie schreien ihr Angebot in die Runde. Wer kaufen will, meldet sich laut und macht mit meist heftigen Armbewegungen auf sich aufmerksam. Es geht ziemlich wild zu und her. In den Telefonkabinen im Hintergrund nehmen einige Händler Kontakte mit ihren Kunden auf. Es kommen auch Meldungen über neuste Geschäftszahlen herein. Das Ganze ist geprägt von einer unglaublichen Hektik.


Die Weltwirtschaft ist aus den Fugen. Der ganze Handel ist ins Stocken geraten und kommt teilweise ganz zum Erliegen. Statt in der Krise eine kluge Welthandelspolitik zu betreiben, heisst das kopflose Motto „Rette sich, wer kann!“. Jeder Staat versucht nun, seine eigene Industrie zu schützen. Die Einfuhr von ausländischen Produkten soll durch hohe Zölle gedrosselt werden, damit die einheimischen Erzeugnisse bessere Marktchancen haben. Auf diese Weise gerät die ganze Weltwirtschaft in noch grössere Absatzschwierigkeiten. Für unser Land mit seiner auf Export ausgerichteten Maschinenindustrie ist die Situation besonders dramatisch. Ohne Exporte ist ein Teil unserer Industrie kaum noch in der Lage, ohne Kurzarbeit oder Entlassungen die Krise zu überstehen.


Die Statistik zeigt, dass direkt nach dem Ersten Weltkrieg und ab 1931 die Arbeitslosigkeit in unserem Land sehr hoch ist. Der Höchststand wird anfangs 1936 mit 90 000 Arbeitslosen erreicht. Erst danach bessert sich die Situation, da mit dem Wiederaufschwung der Wirtschaft in Deutschland und der Frankenabwertung der Export wieder anzieht. Die Bilder zeigen Arbeitslose in einem Park und vor einem städtischen Arbeitsamt.


Wer arbeitslos ist, erhält keinen Erwerbsersatz in Form eines Wochen- oder Monatslohns, wie dies heute der Fall ist. Nur ein kleiner Teil der Arbeiterschaft ist gegen Arbeitslosigkeit versichert und erhält wenigstens einen Lohn, der fürs Nötigste reicht. Langjährige Mitglieder in grossen Gewerkschaften erhalten ebenfalls eine bescheidene finanzielle Unterstützung, wenn sie keine Arbeit mehr finden. Die meisten Arbeitslosen gehen täglich aufs Arbeitsamt, wo ihnen ein Notbatzen ausbezahlt wird. Beim Auszahlen drückt ein Beamte einen Stempel ins Büchlein des Geldbezügers. Daher der Ausdruck „stempeln gehen“.


Die Wirtschaftskrise stellt die Gemeinden und Städte vor grosse Herausforderungen. In Zürich und Winterthur organisieren die Stadtregierungen umfangreiche Beschäftigungsprogramme für die Arbeitslosen. Eine ganze Reihe von öffentlichen Bauprojekten wird in Angriff genommen. So werden neue Brücken und Strassen gebaut. Die öffentliche Hand nimmt in Kauf, dass sich die kommunalen und kantonalen Haushalte durch aufwändige Bauten und Unterstützungsmassnahmen stark verschulden. Doch nur so lässt sich eine grosse politische Krise verhindern. Im Gegensatz zu Deutschland und Italien verläuft in der Schweiz die politische Entwicklung trotz der schweren Wirtschaftskrise viel weniger radikal. Die Parteien einigen sich auf staatliche Fördermassnahmen.


Die Wirtschaftskrise stellt die Gemeinden und Städte vor grosse Herausforderungen. In Zürich und Winterthur organisieren die Stadtregierungen umfangreiche Beschäftigungsprogramme für die Arbeitslosen. Eine ganze Reihe von öffentlichen Bauprojekten wird in Angriff genommen. So werden neue Brücken und Strassen gebaut. Die öffentliche Hand nimmt in Kauf, dass sich die kommunalen und kantonalen Haushalte durch aufwändige Bauten und Unterstützungsmassnahmen stark verschulden. Doch nur so lässt sich eine grosse politische Krise verhindern. Im Gegensatz zu Deutschland und Italien verläuft in der Schweiz die politische Entwicklung trotz der schweren Wirtschaftskrise viel weniger radikal. Die Parteien einigen sich auf staatliche Fördermassnahmen.


Die Wirtschaftskrise stellt die Gemeinden und Städte vor grosse Herausforderungen. In Zürich und Winterthur organisieren die Stadtregierungen umfangreiche Beschäftigungsprogramme für die Arbeitslosen. Eine ganze Reihe von öffentlichen Bauprojekten wird in Angriff genommen. So werden neue Brücken und Strassen gebaut. Die öffentliche Hand nimmt in Kauf, dass sich die kommunalen und kantonalen Haushalte durch aufwändige Bauten und Unterstützungsmassnahmen stark verschulden. Doch nur so lässt sich eine grosse politische Krise verhindern. Im Gegensatz zu Deutschland und Italien verläuft in der Schweiz die politische Entwicklung trotz der schweren Wirtschaftskrise viel weniger radikal. Die Parteien einigen sich auf staatliche Fördermassnahmen.


In unserem Land gibt es zu Beginn der Dreissigerjahre viele, die gebannt nach Deutschland blicken. Man staunt, wie rasch Hitler die Arbeitslosigkeit besiegt und welche politischen Erfolge er erzielt. Doch schon bald zeigt sich, wie brutal die Herrschaft der Nationalsozialisten ist. Wer nicht für Hitler ist, wird verfolgt. Arbeiterführer und Politiker demokratischer Parteien werden verhaftet und in Konzentrationslager gesteckt. Die allermeisten Schweizerinnen und Schweizer sind entsetzt über das, was in Deutschland geschieht. Gegen Ende der Dreissigerjahre ist man sich weitgehend einig: Die Nazis haben in der Schweiz nichts verloren. Wir wollen nicht von Berlin aus regiert werden und werden uns gegen jede fremde Einmischung wehren. Die beiden Plakate zeigen, welche Stimmung in unserem Land vor dem Zweiten Weltkrieg herrscht. Die Freisinnigen (FDP) berufen sich auf den Freiheitsheld Wilhelm Tell. Dieser drückt die roten Fahnen der totalitären Kommunisten (Stalin in der Sowjetunion) und die Banner der Nazis (rechts, etwas undeutlicher) zur Seite. Die Sozialdemokraten auf dem Plakat rechts rechnen mit dem Feuer speienden Ungeheuer Nationalsozialismus schonungslos ab.


Ab 1938 hat die Schweiz nur noch drei Nachbarländer. Österreich wird dem Deutschen Reich „angeschlossen“. Italien und Deutschland sind seit 1936 im Bündnis mit dem Namen „Achse“ zusammengeschlossen. Beide Länder sind faschistische Diktaturen, wo ein Führer die Politik weitgehend dominiert. 1939 verfügt Deutschland bereits über mehrere Panzerdivisionen. – Auf dem Bild sind Mussolinis Schwarzhemden zu sehen. Sie haben eine ähnliche Funktion wie die SA und die SS in Deutschland. – Frankreich ist eine Demokratie. Aber die Parteien sind untereinander völlig zerstritten und der Wille, Deutschland die Stirn zu bieten, ist bei den regierenden Sozialisten wenig ausgeprägt. Die Friedenssehnsucht ist grösser. Das Bild zeigt das zerstrittene Parlament, das Hitler verächtlich als „Schwatzbude“ bezeichnet. – Die Schweiz wird mehr und mehr zum Igel, der sich gegen Norden, Osten und Süden verteidigen muss. Allen ist klar: Wir müssen zusammenstehen und die vorhandenen Streitigkeiten beenden.


Nach dem Einsatz der Armee gegen streikende Arbeiter während des Landesstreiks lehnte ein grosser Teil der Arbeiterschaft das Schweizer Militär ab. Die Einstellung der Linken zur Landesverteidigung blieb bis Mitte der Dreissigerjahre schwer getrübt. Dies ändert sich nach der Machtergreifung Hitlers allmählich. Als klar wird, dass Hitler Sozialisten und Sozialdemokraten erbarmungslos verfolgt, wird die Frage der Landesverteidigung bei den Linken neu aufgerollt. Schliesslich ringen sich die Sozialdemokraten durch, die Wehrvorlage von 1935 zur Stärkung der Armee zu unterstützen. Das rotbraune Plakat hält die neue Einstellung der
Sozialdemokraten zur Armee eindrücklich fest. Der Vater als Soldat schützt seine Familie vor dem Feind. Viel beigetragen zur positiven Einstellung zur Armee hat auch der populäre Bundesrat Rudolf Minger. Unermüdlich warnt er vor der Gefahr für unser Land und erinnert an die Notwendigkeit eines starken Willens zur Landesverteidigung.


Durch die Bedrohung durch Deutschland kommen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder näher. Der Druck von aussen wird so gross,
dass führende Köpfe beider Seiten nach einer Verständigung suchen. Auf Seite des grössten Arbeitgeberverbands ist es Direktor Ernst Dübi, der die Hand zur Zusammenarbeit ausstreckt. Er ist überzeugt, dass es vernünftiger ist, mit fairen Verhandlungen den Gewerkschaften entgegenzukommen als unnötige Härte zu zeigen. Dübi rechnet vor, welchen Schaden die vielen Streiks der Wirtschaft zugefügt haben. Auf Seite der Gewerkschaften ist es der Präsident des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbands, Konrad Ilg, der die Zeichen der Zeit erkennt und Verhandlungsbereitschaft signalisiert. 1937 kommt es zu mehreren Gesprächen zwischen Dübi und Ilg im Bahnhofbuffet Zürich. Die beiden gehen aufeinander zu und und entwerfen ein Friedensabkommen zwischen Gewerkschaften und der Maschinenindustrie. Es braucht aber viel Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen, um eine Mehrheit für den neuen Kurs für eine Sozialpartnerschaft gewinnen zu können.


Im Sommer 1937 unterzeichnen Ernst Dübi vom Arbeitgeberverband und Konrad Ilg vom SMUV zusammen mit den Präsidenten der christlichen Gewerkschaften das legendäre Friedensabkommen. Es ist ein Meilenstein der Sozialpartnerschaft. Das Abkommen gilt vorerst für zwei Jahre, wird aber später immer wieder verlängert. Die Vertragspartner halten fest, künftig „Auf Treu und Glauben“ miteinander zu verhandeln. Lohnverhandlungen sollen faire Löhne sichern und Streiks sollen verboten sein. Im Fall von Uneinigkeit soll ein von beiden Seiten anerkanntes Schiedsgericht einen Entscheid fällen. Das Friedensabkommen leitet eine lange Phase stabiler wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse in unserem Land ein. Es ist ein wichtiger Teil der Erfolgsgeschichte der Schweizer Wirtschaft und bahnbrechend für die Entwicklung unseres Sozialstaats.


Die wirtschaftlichen Schäden durch längere Streiks sind enorm. Eine Wirtschaft ohne Produktionsausfälle durch Streiks ist viel konkurrenzfähiger. Die Grafik zeigt, dass die Streikbereitschaft in den Jahren vor und nach den Ersten Weltkrieg in der Schweiz am höchsten war. Kleinere Streikwellen gibt es nochmals nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch mit dem Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre wird in unserem Land kaum noch gestreikt. Die ganz wenigen Streik betreffen Branchen, die nicht ins Friedensabkommen oder in Gesamtarbeitsverträge integriert sind.


Ein grosser Teil der Arbeiterschaft rückt am 1. September 1939 in den Militärdienst ein. Wieder ruht viel Arbeitslast auf den Frauen zuhause. In den Industriebetrieben übernehmen vorwiegend ältere Arbeitnehmer die anstehenden Aufgaben. Doch im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg erhalten Soldaten während des Aktivdiensts im Zweiten Weltkrieg einen teilweisen Lohnersatz. Auch ist die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sichergestellt. Die Lebensmittel sind rationiert und werden dank der Lebensmittelkarten gerecht verteilt. Zum farbigen Bild: Die Grenze am Rhein musste Tag und Nacht bei jeder Witterung bewacht werden. Die Wachen wurden in der Regel alle zwei Stunden abgelöst. Der Wachsoldat auf dem Bild trägt zum Schutz vor der Kälte eine Armeeplane über dem Rücken. Im Winter 1939/40 standen sich deutsche und französische Truppen an der Grenze gegenüber, ohne dass es zu grösseren Kampfhandlungen kam („Drôle de guerre“). Aber alle wussten, dass die Deutschen bei günstiger Gelegenheit mit aller Kraft angreifen würden. Und eine Möglichkeit bestand darin, dass die Deutschen die französischen Stellungen am Rhein durch einen Angriff über die Schweiz umgehen würden. Wir standen unter ständigem Druck.


Ein grosser Teil der Arbeiterschaft rückt am 1. September 1939 in den Militärdienst ein. Wieder ruht viel Arbeitslast auf den Frauen zuhause. In den Industriebetrieben übernehmen vorwiegend ältere Arbeitnehmer die anstehenden Aufgaben. Doch im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg erhalten Soldaten während des Aktivdiensts im Zweiten Weltkrieg einen teilweisen Lohnersatz. Auch ist die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sichergestellt. Die Lebensmittel sind rationiert und werden dank der Lebensmittelkarten gerecht verteilt. Zum farbigen Bild: Die Grenze am Rhein musste Tag und Nacht bei jeder Witterung bewacht werden. Die Wachen wurden in der Regel alle zwei Stunden abgelöst. Der Wachsoldat auf dem Bild trägt zum Schutz vor der Kälte eine Armeeplane über dem Rücken. Im Winter 1939/40 standen sich deutsche und französische Truppen an der Grenze gegenüber, ohne dass es zu grösseren Kampfhandlungen kam („Drôle de guerre“). Aber alle wussten, dass die Deutschen bei günstiger Gelegenheit mit aller Kraft angreifen würden. Und eine Möglichkeit bestand darin, dass die Deutschen die französischen Stellungen am Rhein durch einen Angriff über die Schweiz umgehen würden. Wir standen unter ständigem Druck.


Mit der Schaffung einer bescheidenen staatlichen Altersrente wird 1948 ein zentrales Element unseres Sozialstaates eingeführt. Für die Gewerkschaften und die linken Parteien ist die Einführung ein grosser Erfolg. Die Altersrente war eine der Forderungen des Oltener Streikkomitees im Jahr 1918. Das Plakat rechts aus der Abstimmung über die staatliche Altersvorsorge wirbt für die Solidarität zwischen der jungen Generation und den Pensionierten. Die jungen sichern mit ihren Abgaben (Lohnprozente für die AHV) der älteren Generation einen sorgenfreien Lebensabend. Wer 1948 pensioniert wird, hat ja noch keine Lohnprozente in den AHV-Fond einbezahlt. Die Altersrente wird später mehrmals erhöht. Bis 1995 fanden zehn AHV-Revisionen statt. Bei den nachfolgenden Änderungen wurde das AHV-Alter für Frauen dem AHV-Alter der Männer schrittweise angepasst (AHV 21) und ab Ende 2026 wird eine 13. AHV-Rente ausbezahlt. Bei der Finanzierung der AHV beteiligen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit je 4.35 Prozenten des individuellen Bruttolohns jedes Angestellten. Der Staat unterstützt mit Steuern (Tabaksteuer, usw.) ebenfalls die AHV-Kasse.


Die Fünfzigerjahre sind geprägt von US-amerikanischem Einfluss. Als Siegermacht bringen die Amerikaner ihren Lebensstil und neue wirtschaftliche Errungenschaften mit nach Europa. Zu den Neuerungen zählt die Einführung von Selbstbedienungsläden und modernen Supermärkten in den Grossstädten. In der Schweiz verläuft die Entwicklung zuerst zögerlich, ab Mitte der Fünfzigerjahre dann aber ziemlich stürmisch. Oft werden innert weniger Tage gewöhnliche Verkaufsläden zu Selbstbedienungsläden umgebaut. Vom grösseren Angebeot an Nahrungsmitteln und anderen Produkten können die meisten Familien jetzt profitieren, da auch die Löhne gestiegen sind. Es herrscht eine zuversichtliche Stimmung, dass es weiter aufwärts geht.


Die meisten verheirateten Frauen sind in der Zeit nach 1950 nicht berufstätig. Sie führen den Haushalt und sind für die Familie da. Kleinfamilien sind häufiger als Familien mit einer grossen Zahl an Kindern. Ein grosser Fortschritt sind die neuen Waschautomaten, welche Ende der Fünfzigerjahre überall auf den Markt kommen. Sie erleichtern den Hausfrauen die Arbeit und lassen die dampfende Waschküche vergessen. In den neuen Wohnungen gehört jetzt ein Kühlschrank zur Standardausstattung. Im Wohnzimmer steht ein Radio, das über einen UKW-Empfang verfügt und ein Plattenspieler für die den neusten deutschen Schlager sind keine Seltenheit.


In den Fünfzigerjahren können sich die wenigsten Familien in unserem Land ein Auto leisten. Man fährt mit der Bahn und macht Ferien in der Schweiz. Doch das Wirtschaftswunder geht weiter. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der Autoproduktion. Ab 1954 steigen die Produktionszahlen für den VW-Käfer rasch in die Höhe. Besser verdienende Familien in Deutschland können sich das neue Auto bereits leisten. Ein VW-Standardmodell für den deutschen Markt kostet rund 4000 D-Mark, für den Export sind es fast tausend D-Mark mehr. In den Sechzigerjahren erreicht der Autoboom auch die Schweiz. Manche Familie kauft sich einen VW oder einen Fiat. Am Sonntag fährt die Familie hinaus ins Grüne. Im VW hat die ganze Campingausrüstung der Familie Platz. Anstelle von Campingstühlen benützt die Familie auf dem Bild aufblasbare Luftmatratzen. Das Auto ermöglicht auch günstige Campingferien im Ausland. Von Jahr zu Jahr zieht es mehr Mitteleuropäer im Sommer nach Italien ans blaue Mittelmeer.


Das wachsende Wirtschaftswunder in der Schweiz schafft Arbeitsplätze in grosser Zahl. Im Baugewerbe, im Gemüsebau und weiteren Branchen sind wir auf Gastarbeiter angewiesen, um alle Stellen besetzen zu können. Die meisten von ihnen kommen aus dem Süden Italiens. Im Vergleich zu ihrem Heimatland sind die Löhne für die Gastarbeiter bei uns relativ hoch. Dennoch leben die meisten bei uns in einfachsten Verhältnissen. Viele sparen ihr Geld, um es nach Hause zu ihren Angehörigen zu schicken. Oft sind es Gastarbeiter, welche harte und weniger gut bezahlte Arbeiten ausführen, die von Schweizern gemieden werden. Zum Bild: Die Italiener freuen sich riesig auf die Weihnachtsferien. Für zwei Wochen können sie zurück in ihre Heimat fahren und wieder mit ihren Familienangehörigen zusammen sein. Im Bahnhof Zürich steht ein Extrazug nach Bari bereit. Es sind nicht die neusten Wagen, die für den langen Zug eingesetzt werden. Aber die Stimmung unter den Gastarbeiter ist gut, obwohl eine sehr lange Reise bevorsteht. Man hilft sich beim Einladen der prall gefüllten Koffer. Damit es schneller geht, reichen sich die Arbeitskollegen die Koffer durch die offenen Fenster, welche sich bei den alten Wagen noch öffnen liessen.


Die Geschichte des Frauenstimmrechts in der Schweiz ist ein tristes Kapitel. Es will und will nicht vorwärtsgehen. Bis gegen Ende der Fünfzigerjahre werden alle kantonalen Anläufe für die Einführung des Frauenstimmrechts von den Männern deutlich abgelehnt. 1959 kommt es zur überfälligen Wende. In den Kantonen Waadt, Neuenburg und Genf (1960) wird das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene eingeführt. Die Entwicklung zugunsten des Frauenstimmrechts ist nicht mehr aufzuhalten. Selbstbewusste Frauen und „ritterliche“ Männer kämpfen nun in allen Kantonen für die gleichen Rechte von Mann und Frau. Das Bild zeigt einen Demonstrationszug engagierter Frauen zwei Jahre vor der Abstimmung über das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene.


Im Februar 1971 wird das eidgenössische Frauenstimmrecht mit fast 66 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Mitentscheid war, dass neben den vier Bundesratsparteien auch der Gewerkschaftsbund und der Bauernverband die Ja-Parole beschlossen hatten. Bei den eidgenössischen Wahlen von 1971 werden elf Frauen in den Nationalrat gewählt. Darunter die beiden späteren Nationalratspräsidentinnen Elisabeth Blunschy (CVP) und Hedi Lang (SP).


In den Siebzigerjahren wandelt sich das Frauenbild in der Schweiz grundlegend. Frauen sehen sich nicht nur als künftige Mütter, sie wollen auch beruflich Erfolg haben und selbständig über ihr Leben bestimmen können. Der Anteil der Schülerinnen in den Gymnasien und an den Universitäten steigt deutlich an. Bei den anspruchsvollen Berufslehren ist ebenfalls ein Anstieg junger Frauen zu verzeichnen. Nach der Verheiratung möchten viele Frauen weiter in ihrem Beruf tätig sein. Mit dem freien Zugang zur Anti-Baby-Pille (um 1965) nimmt die Zahl der geborenen Kinder ab. Gleichzeitig steigt die Zahl der Ehescheidungen. Frauen sind nicht mehr bereit, in unglücklichen Ehen weiter mit ihrem Partner zusammenzuleben.


Politisch verläuft die Entwicklung in unserem Land in eher ruhigen Bahnen. Die gute Wirtschaftslage und der anhaltende Optimismus, dass es allen von Jahr zu Jahr besser gehen wird, stimmt zuversichtlich. Jahr für Jahr steigen die Löhne der Arbeiter und Angestellten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber führen jedes Jahr erfolgreiche Lohnverhandlungen, bei denen es weder zu Streiks noch zu grossen Unstimmigkeiten kommt. Bei der Wahl des neuen Bundesrates von 1959 kommt erstmals die „Zauberformel“ zum Zug. Die grössten Parteien unseres Landes teilen die sieben Bundesratssitze proportional zu ihrer prozentualen Stärke im Parlament unter sich auf. Erstmals erhält die Sozialdemokratische Partei nun zwei Sitze. Freisinnige (heute FDP), Sozialdemokraten (SPS) und Katholisch-Konservative (heute CVP) erhalten je zwei Bundessratssitze. Die BGB (heute SVP) bekommt den siebten Sitz. Heute ist die SVP die stärkste Partei und hat gemäss Zauberformel Anspruch auf zwei Bundesratssitze. Die CVP als kleinste der vier Bundesratsparteien muss mit einem Sitz zufrieden sein.


Heute geht es uns weit besser als den Arbeitern vor mehr als 170 Jahren. Wir verfügen über einen hohen Lebensstandard und haben eine höhere Lebenserwartung. Die Grafik zeigt die eindrückliche Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Reduktion war nur möglich, weil die Wirtschaftsleistung dank der technischen Entwicklung stetig zugenommen hat und die Umsätze gewaltig stiegen. Zudem haben die gut organisierten Gewerkschaften viel zu diesem Erfolg beigetragen. 1848 wird an sechs Tagen pro Woche täglich 13 Stunden in den Fabriken gearbeitet. 1877 wird die Arbeitszeit mit dem neuen Fabrikgesetz auf maximal 66 Stunden festgelegt. Am Samstag ist etwas früher Feierabend als an den übrigen Wochentagen. 1964 kennen die meisten Betriebe bereits die Fünftagewoche. Die tägliche Arbeitszeit beträgt noch knapp neun Stunden. Heute ist eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden in den meisten Betrieben die Regel.


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Kurzporträt Hanspeter Amstutz
Ehemaliger Sekundarlehrer mit langjähriger Berufserfahrung. Mitgestalter in der Zürcher Schulpolitik als Kantons- und Bildungsrat. Aktuell tätig als Referent zu historischen Themen, in der Lehrerfortbildung im Bereich Geschichte sowie als Autor für zwei Schulblogs. Kontakt: famamstutz@bluewin.ch

Ein grosses Anliegen von Hanspeter Amstutz ist es, Meilensteine unserer Schweizer Geschichte in Vorträgen lebendig werden zu lassen. Anfragen für öffentliche Präsentationen nimmt er über seine Mailadresse entgegen.


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