Benjamin Kilchör: Redefreiheit sichern und stärken – Plädoyer für die jüdisch-christlichen Wurzeln

Benjamin Kilchör ist Professor für Altes Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Zugleich engagiert er sich im akademischen Komitee des Bündnisses für Redefreiheit.

SICHTWEISENSCHWEIZ.CH wollte wissen, wie der Bibelwissenschaftler mit seiner Expertise den Einfluss der Meinungsäusserungsfreiheit auf den Erfolg der Schweiz erklärt. Entstanden ist ein prägnantes Plädoyer für die jüdisch-christlichen Wurzeln in unserer Gesellschaft – mit aufschlussreichen und anregenden Erkenntnissen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Freiheit des Wortes.




Frage 1: Wie haben Dialog und Debatte, Meinungsäusserungsfreiheit und Auseinandersetzung in der Vergangenheit zum Erfolg der Schweiz beigetragen?


Die Schweiz ist Teil des fortschrittlichen Westens, der eine offene Gesellschaft hervorgebracht hat, wie es sie wohl nie zuvor in der Geschichte gegeben hat. Die geistigen Wurzeln sind zu einem grossen Teil in der Bibel angelegt. Der jüdische Bibelwissenschaftler Joshua Berman zeigt in seinem Buch Created Equal. How the Bible Broke with Ancient Political Thought (Oxford University Press, 2008), wie im biblischen Denken Gott an die Stelle eines Grosskönigs tritt, was zu einer grundsätzlichen Relativierung menschlicher Macht führt, zu ersten Konzepten von Gewaltenteilung in der Tora und insbesondere zum Gedanken der Gleichheit der Menschen, die ihren bekanntesten Ausdruck in der Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen findet. Man könnte es auf die Formel bringen: «Wer vor Gott kniet, kann vor Menschen aufrecht stehen». Der Mensch wird ermächtigt, anderen Menschen, auch wenn es Grosskönige sind, erhobenen Hauptes und mit gesundem Selbstbewusstsein gegenüberzutreten.

In den grossen Kulturen des Alten Vorderen Orients wurden die Mächtigen nur positiv dargestellt. Die Schlacht von Kadesch im 13. Jh. v. Chr. zwischen den Ägyptern (unter Pharao Ramses II dem Grossen) und den Hethitern gilt als bestdokumentierte Schlacht des Altertums. Sie ging unentschieden aus, was bedeutet, dass beide Seiten sich als Sieger feiern liessen. Niederlagen gab es nicht in der Königspropaganda. Ganz anders das Alte Testament, das voll von Israels Niederlagen ist. Der grosse König David wird als Mörder und Ehebrecher portraitiert, der über ein Volk herrschen will und nicht einmal in der eigenen Familie halbwegs Ordnung schaffen kann. Der Prophet Nathan stellt ihn für seine Verbrechen zur Rede und David muss reuig Busse leisten. Das Prophetenamt ist im Alten Testament ganz zentral ein Amt der freien Rede und Kritik am König und den Eliten. Die Jotam-Parabel des Richterbuches (Kapitel 9) macht sich lustig über das Königtum: Weder der Olivenbaum noch der Feigenbaum noch der Weinstock will König über die Bäume werden, weil alle Wichtigeres zu tun haben. Am Schluss wird der Dornstrauch König, weil er sonst nichts zu tun hat und gerne über den anderen Bäumen schweben will.

Im Neuen Testament findet sich die gleiche Tendenz in der Schlichtheit von Jesus, die der Glanz eines unsichtbaren Königtums ist, das sich gegen die Machtlogik dieser Welt behauptet. Die Ersten werden die Letzten sein, die Letzten die Ersten. Am Ostermorgen werden die Frauen zu den ersten Augenzeugen der Auferstehung. Im damaligen Rechtssystem wären sie als Frauen gar nicht als Zeugen zugelassen gewesen. Paulus bringt es im Galaterbrief (Kapitel 3) auf die Formel: «Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus.» Die Apostelgeschichte (Kapitel 4–5) erzählt, wie sich die Apostel vor der weltlichen Macht den Mund nicht verbieten lassen und auf ein Redeverbot mutig antworten: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen». Der britische Historiker und Literaturwissenschaftler Tom Holland hat in seinem Bestseller Dominion. The Making of the Western Mind (dt. Herrschaft. Die Entstehung des Westens, Klett-Cotta, 2021) gezeigt, wie diese biblische Logik, die nicht auf das Ansehen der Person schaut, sondern das Geringe erhebt und die irdischen Werte auf den Kopf stellt, den Westen über die Jahrhunderte geformt hat.

Dass die jüdisch-christliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und damit Gleichheit aller Menschen vor Gott dazu führt, dass jeder Mensch angehalten ist, seine Meinung in die Debatte einzubringen, liegt auf der Hand. Die Wirkung davon ist für ganze Kulturen die gleiche wie für jedes beliebige KMU: Je offener Kritik geäussert werden kann, je ernster auch die Menschen an der Basis genommen werden, desto klügere und nachhaltigere Entscheidungen werden getroffen. Es findet eine höhere Identifikation und damit auch eine grössere Leistungsbereitschaft statt. Man ist eher bereit, sich in den Dienst das Ganzen zu stellen, als nur das System für seine eigenen Vorteile zu nutzen. Im freiheitlichen Westen ist die Schweiz in diese Richtung sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Die direkte Demokratie führt zwar dazu, dass das Treffen von Entscheidungen schwerfälliger, langsamer und mühsamer ist, dass aber umgekehrt die Schweiz sogar innerhalb des erfolgreichen Westens politisch stabiler, ausgeglichener, weniger extrem und noch erfolgreicher ist.

«Ähnlich gefällt es heute Regierungen und Leitmedien nicht,
dass ihnen die Hoheit über die veröffentlichten Narrative entgleiten
und sie versuchen mit Regulierungen unliebsamer Meinungen und teilweise auch mit Einschüchterungen die Hoheit zurückzugewinnen.»

Prof. Dr. Benjamin Kilchör


Frage 2: Welche Rolle spielen Dialog und Debatte, Meinungsäusserungsfreiheit und Auseinandersetzung heute für den Erfolg der Schweiz? 


Die Meinungsfreiheit ist auch im Westen unter Druck, was aber zunächst einmal eine Reaktion darauf ist, dass es Möglichkeiten zur Meinungsäusserung gibt wie nie zuvor: Das Internet und die sozialen Medien. Die Prozesse, die wir seit einigen Jahren beobachten, haben Ähnlichkeiten zu den Prozessen bei der Erfindung des Buchdrucks. Die Erfindung des Buchdrucks war eine wesentliche Voraussetzung für die Reformation, weil man plötzlich mit Flugblättern und Schriften die Masse erreichen konnte. Denen, die bisher das Informationsmonopol hatten, hat das natürlich nicht gefallen und sie haben es mit Zensur, Cancel Culture und Einschränkungen der freien Rede bekämpft. Ähnlich gefällt es heute Regierungen und Leitmedien nicht, dass ihnen die Hoheit über die veröffentlichten Narrative entgleiten und sie versuchen mit Regulierungen unliebsamer Meinungen und teilweise auch mit Einschüchterungen die Hoheit zurückzugewinnen. In Deutschland gehören zu diesen Einschüchterungen etwa Hausdurchsuchungen wie diejenige, die kürzlich beim Medienwissenschaftler Norbert Bolz wegen eines völlig harmlosen X-Beitrags stattgefunden hat. Weil diese Versuche aber selbst wieder in den sozialen Medien landen, sind sie nicht nur erfolglos, sondern kontraproduktiv und wirken lächerlich und befremdend. Die aktuellen Kämpfe um Meinungsfreiheit sind teils ziemlich heftig (wenn auch nicht so heftig wie in früheren Zeiten mit Bücher- und Menschenverbrennungen). Diese Heftigkeit ist Ausdruck einer Machtlosigkeit, die Eigendynamik der sozialen Medien unter Kontrolle zu kriegen, was hoffen lässt, dass die Meinungsäusserungsfreiheit mittelfristig gestärkt aus diesem Prozess hervorgeht.

Was die Schweiz betrifft, so ist auch hier die konsequentere institutionelle Verankerung der Meinungsäusserungsfreiheit und Auseinandersetzung im System der direkten Demokratie eine ausgleichende Kraft. Zwar ist auch in der Schweiz die Meinungsäusserungsfreiheit unter Druck, aber doch nicht in der Heftigkeit, in der wir es etwa in den USA oder in Deutschland beobachten können. Grund dafür ist einerseits, dass die direkte Demokratie von Vornherein verhindert, dass politische und mediale Eliten sich zu weit von der Bevölkerung entfernen und in einer wirklichkeitsfremden Bubble einrichten können, andererseits dass durch dieses politische System die einfache Bevölkerung auch besser darin geübt ist, sich zum politischen und gesellschaftlichen Diskurs eine Meinung zu bilden und diese auch einzubringen.


Benjamin Kilchör: «Die junge Generation spürt, dass die weit verbreitete Gleichgültigkeit oder sogar Ablehnung und Verachtung des christlichen Erbes nicht auf Aufklärung, sondern Unwissenheit und Vorurteilen beruht. Sie wollen zu den Quellen unserer westlichen Kultur zurück, sich echt und vorurteilsfrei mit ihnen befassen.»


Frage 3: Was braucht es, was stimmt Sie zuversichtlich, dass die Schweiz auch in Zukunft erfolgreich sein wird? Welche Rolle spielen dabei Dialog und Debatte, Meinungsäusserungsfreiheit und Auseinandersetzung?


Tom Holland hat im oben genannten Buch argumentiert, dass die christliche Prägung, ihr Wertesystem, allgegenwärtig ist und auch dort als gemeinsame Basis vorausgesetzt wird, wo sie negiert wird (z.B. im Säkularismus, Atheismus oder auch in der Wokeness-Bewegung). Der Kampf für Minderheiten der Wokeness-Bewegung ist beispielsweise ein Kampf, der ohne die von der Bibel geprägten Moralvorstellungen, in denen das Geringe gewürdigt, geschützt und gegen Übergriffe verteidigt wird, gar nicht denkbar wäre. Dass der Kampf für diese Minderheiten teilweise über das Ziel hinausschiesst, bzw. sich der Mittel bedient, gegen die zu kämpfen man eigentlich angetreten ist, wie ein Antifaschismus, der mit faschistoiden Mitteln gegen den Faschismus kämpft, steht auf einem anderen Blatt. Steven Pinker hat es kürzlich gut auf den Punkt gebracht, wenn er sagte, er sei für Diversität, Gleichheit und Inklusion, doch gelte, was Voltaire über das heilige römische Reich treffend gesagt habe: Es ist weder heilig, noch römisch, noch ein Reich. Mit anderen Worten: Die Labels sind gut, stimmen aber nicht überein mit dem, was drin ist.

Dass man sich zumindest über die Labels, wenn auch nicht über die Inhalte, noch einigen kann, weil man eine gemeinsame Prägung hat, stimmt zunächst einmal zuversichtlich. Allerdings wird diese Prägung langsam wegerodieren, wenn ihr das Fundament entzogen wird. Dystopien, wie sie etwa in Yuval Hararis Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen (2017), entworfen werden, wo eine kleine Elite wieder zu Gottmenschen wird wie die alten Pharaonen und Cäsaren, während die breite Masse nutzlos ist und mit Drogen und Computerspielen – Brot und Spiele 2.0 – ruhig gehalten werden soll, stellen die unbedingte Menschenwürde infrage und schleichend verliert diese an innerer Plausibilität, wenn sie nicht an die jüdisch-christlichen Grundlagen zurückgebunden bleibt, bzw. neu zurückgebunden wird. Schon Friedrich Nietzsche, der seiner Zeit weit voraus war, hat uns ja zugleich über den Tod Gottes informiert («Gott ist tot»), aus dem die Auflösung aller Werte folgt («Jenseits von gut und böse») und die Herrschaft des Starken über den Schwachen hervorgeht («der Übermensch), das alte Heidentum mit seiner Verehrung des Helden und Verachtung des Schwachen also wieder aufersteht.

Hoffnungsvoll stimmt mich, was in der Religionssoziologie neuerdings unter dem Stichwort «Quiet Revival» beobachtet (wenn auch noch nicht wirklich verstanden) wird – dass nämlich in Ländern wie England und Frankreich die Generation Z wieder vermehrt zur Kirche geht und die Taufen stark ansteigen. Die Google-KI antwortet auf die Frage, was «Quiet Revival» ist:

«Quiet Revival» (Stille Erweckung) beschreibt ein aufkommendes Phänomen, vor allem in Grossbritannien, bei dem die Kirchen trotz allgemeiner Säkularisierung eine überraschende Zunahme der Besucherzahlen verzeichnen, angeführt von jungen Erwachsenen (Generation Z), die eine neue Offenheit für den christlichen Glauben und die Bibel zeigen, was zu einer stillen, aber wachsenden Erneuerung im Christentum führt. Es ist eine Bewegung, die sich durch eine neue Spiritualität und die Rückkehr zur Bibel auszeichnet, ohne laute öffentliche Kampagnen, und die Chancen für Gemeinden bietet.

Es gibt offenbar ein Empfinden dafür, dass wir, wenn wir die Säkularisierung immer weitertreiben, letztlich den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Denn die Säkularisierung führt zu einer Materialisierung des Menschen und verneint jeden Transzendenzbezug und damit das, was alle Menschen verbindet und jedem Menschen die Würde gibt, eine Meinung zu haben und zu äussern.

Es scheint in der jungen Generation ein neues Ad Fontes zu geben. Sie spüren, dass die weit verbreitete Gleichgültigkeit oder sogar Ablehnung und Verachtung des christlichen Erbes nicht auf Aufklärung, sondern Unwissenheit und Vorurteilen beruht. Sie wollen zu den Quellen unserer westlichen Kultur zurück, sich echt und vorurteilsfrei mit ihnen befassen. Eine Suchbewegung, die wieder nach den tiefsten geistigen und geistlichen Gründen unseres Erfolgs fragt. In der Schweiz lässt sich ein Quiet Revival meines Wissens bisher nicht beobachten, was daran liegen dürfte, dass durch die oben genannten Qualitäten der Schweiz die Missstände in der Generation Z nicht gleichermassen wahrgenommen und in ein neues Suchen umgemünzt werden. Doch wenn der Westen sich noch einmal daran erinnert, dass Dialog und Debatte, Meinungsäusserungsfreiheit und Auseinandersetzung keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern in Jahrhunderten teuer errungene Güter, die nicht frei in der Luft schwebend weiter bestehen werden, sondern ein solides Fundament benötigen, dann bin ich guter Dinge, dass sie auch in der Schweiz weiterhin gepflegt und gehegt werden und die Schweiz auch in Zukunft erfolgreich sein wird – nicht nur materiell und finanziell, sondern ganzheitlich, auf das Wohl von Leib und Seele ihrer Bewohner bedacht.


Kurzporträt Benjamin Kilchör
Benjamin Kilchör ist evangelischer Theologe und Professor für Altes Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Er ist in Wetzikon geboren, hat ein Grundstudium der Germanistik in Zürich absolviert, sowie ein Studium der evangelischen Theologie in Basel und Leuven (PhD Evangelische Theologische Fakultät Leuven, 2014). 2015 wurde er in der Reformierten Kirche des Kantons Zürich zum VDM (Verbi Divini Minister) ordiniert.

Im Bündnis Redefreiheit engagiert sich Benjamin Kilchör als Mitglied des akademischen Komitees.


Buchempfehlung
Benjamin Kilchör zeigt ausgehend vom Apostolischen Glaubensbekenntnis, wie die grundlegenden christlichen Glaubensinhalte im Alten Testament ihre Wurzeln haben und er skizziert, welche Bedeutung sie auch für gesellschaftliche Fragen haben, die uns heute beschäftigen (z.B. Transhumanismus, Lebensrecht, u.a.). – Benjamin Kilchör, Das Alte Testament vom Glaubensbekenntnis her verstehen, Giessen: Brunnen Verlag, 2023.


Bildnachweis: zvg

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