Wann hatten Sie zuletzt das Gefühl, dass alles nach Plan läuft? Dass sich über mehrere Monate hinweg in Ihrem Leben alles so entwickelt hat, wie Sie es erwarteten? Wenn Sie jetzt ins Stocken geraten sind, sind Sie in guter Gesellschaft. Das Leben ist chaotisch, und der Normalfall ist die Ausnahme, nicht die Regel. Wer darauf hofft, dass bald alles in ruhigen und geordneten Bahnen verläuft, wird jeweils rasch enttäuscht.
Was für den einzelnen Menschen zutrifft, gilt auch für ein Land als Ganzes. Das zeigt sich schon in kurzen Zeitfenstern. Seit der Jahrtausendwende hat die Schweiz zahlreiche Krisen erlebt: die Folgen der Terroranschläge vom 11. September, die Finanzkrise, die Euro-Krise, die Covid-Pandemie, den Untergang der Credit Suisse und jüngst einen globalen Handelskrieg.
Wenn Spannung positiv wirkt
Die Institutionen unseres Landes haben all diese Turbulenzen erstaunlich gut überstanden. Die Schweiz scheint Verwerfungen besser wegzustecken als andere Länder. Das geflügelte Wort, dass Krisen auch Chancen bedeuten, war in der Schweiz meist keine Worthülse. Doch die jüngste Häufung von Krisen hat auch hierzulande Spuren hinterlassen. Viele fühlen sich zunehmend überfordert, und die Gesellschaft als Ganzes scheint unter einer gewissen Spannung zu stehen.
Eine solche Spannung kann über die Zeit zu Rissen führen. Oder aber: Sie setzt Energie frei für etwas Neues, Besseres. Das ist aber nur dann der Fall, wenn sowohl die Schweiz als auch ihre Bewohnerinnen und Bewohner eine zentrale Eigenschaft aufweisen, die heute wichtiger ist denn je: Antifragilität.
Antifragil – dieser Begriff dürfte vielen nicht vertraut sein. Es wird aber rasch klar, was damit gemeint ist, wenn man das Gegenteil anschaut. Denn fragil, das kennen wir alle: Wer Gläser oder Weinflaschen verschickt, markiert das Paket als «fragile», also «zerbrechlich». Doch was ist das Gegenteil? Viele würden sagen: etwas Robustes wie ein Fels, der Belastungen ohne Schaden übersteht.
Doch ein Felsblock widersteht zwar einem Sturm, aber er wird dadurch weder stärker noch schwächer. Das Gegenteil von fragil ist deshalb nicht robust, sondern antifragil – so wie das Gegenteil von Rückschritt nicht Stillstand ist, sondern Fortschritt.
Wer antifragil ist, lernt und profitiert von Unsicherheit und Stress, anstatt daran zu zerbrechen. Stellen Sie sich einen Besuch im Fitnessstudio vor: Ihre Muskeln werden durch den gezielten Stress der Gewichte belastet. Es bilden sich kleine Risse im Muskelgewebe, doch in der Regenerationsphase baut sich dieses umso stärker wieder auf.
Was Menschen antifragil macht
Dieses Prinzip gilt nicht nur fürs Fitnesstraining. Menschen wachsen an überschaubaren Herausforderungen. Lassen Sie deshalb kleine Zumutungen zu. Kinder, die von den Eltern überallhin chauffiert werden, dürften es schwerer haben, ein Gefühl für Risiko und Selbstwirksamkeit zu entwickeln, als diejenigen, die auf dem Velo oder dem Trottinett unterwegs sind. Auch Erwachsene werden fragil, wenn sie jede Belastung und Unsicherheit meiden. Beziehungen etwa, in denen auch kleine Konflikte nicht ausgetragen werden, zerbrechen eher beim ersten grossen Schock. Entscheidend ist deshalb, Stress in einer Dosis zuzulassen, die stärkt statt überfordert.
Menschen werden zudem antifragiler, wenn sie nicht von einem einzigen Weg abhängig sind. Jemand, der sich breit aufstellt, mit mehreren Rollen, Interessen oder Projekten, steckt Rückschläge in der Regel leichter weg, weil er nicht alles auf eine Karte setzt. Optionen schaffen Gelassenheit und eröffnen Chancen, die man sonst nicht hätte. Der Physiker Albert Einstein arbeitete als technischer Experte am Patentamt in Bern und entwickelte daneben seine Relativitätstheorie – ein Nebenpfad, der zum Hauptpfad wurde.
Antifragilität endet aber nicht beim Individuum. Auch Länder können stärker werden, wenn sie sich Irritationen aussetzen. Und genau hier wird die Schweiz spannend. Sie wurde nie bewusst als antifragiles System geplant. Wie wir im Buch «Antifragile Schweiz – 17 Strategien für eine Welt der Unordnung» zeigen, hat das Land über die Zeit aber Institutionen entwickelt, die diese Idee fast lehrbuchhaft abbilden. Wer das erkennt, sieht die Schweiz mit anderen Augen und versteht einen grossen Teil ihres Erfolgs.
Das antifragilste Land der Welt
Viele Institutionen der Schweiz sind so gebaut, dass sie Störungen provozieren und in produktive Reibung verwandeln. Die direkte Demokratie zum Beispiel reisst Regierungen und Parlamente immer wieder aus der Lethargie und Selbstgefälligkeit. Sie funktioniert wie ein permanenter «Feedbackloop», der dafür sorgt, dass die Politikerinnen und Politiker sich nicht zu weit von den Präferenzen der Bevölkerung entfernen. Die Entfremdung zwischen Staat und Bürger ist deshalb in der Schweiz viel weniger Thema als in unseren grossen Nachbarländern.
Das hat auch mit der hiesigen Konsenskultur zu tun: Akteure ringen miteinander um Lösungen, statt aneinander vorbeizureden. Sie wirkt somit wie ein institutionalisierter Zwang zur Auseinandersetzung, bis ein tragfähiger Kompromiss entsteht. All das macht die Schweiz zu einem System, das laufend Rückmeldungen verarbeitet und so Störungen nutzen kann, bevor sie zu Krisen werden.
Konstruktives Feedback ist nur in einem System möglich, das Optionen schafft und nicht auf grossen Plänen beruht. Die Schweiz ist nicht deshalb erfolgreich, weil sie weiss, wohin die Welt steuert, sondern weil sie Strukturen entwickelt hat, die mehrere Wege offenlassen und auch Fehlschläge zulassen. Dies zeigt sich in der Politik. So probieren Kantone und Gemeinden Neues aus, scheitern lokal und werden kopiert, wenn etwas funktioniert. Erfolg ist übertragbar, Misserfolg bleibt begrenzt.
In der Wirtschaft ist es ähnlich: Die Berufsbildung ermöglicht viele Einstiege und Umstiege, der liberale Arbeitsmarkt kombiniert Flexibilität mit Sicherheit: Uns wird zugetraut, Risiken im Normalfall selbst zu tragen – im Ernstfall erhält man aber gezielt Hilfe durch die Gemeinschaft. Das Ergebnis ist ein System, das keinem starren Drehbuch folgt und Einseitigkeit vermeidet.
Das ist ein zentraler Grund dafür, weshalb die Schweiz globale Stürme oft gut übersteht. Wenn sich die Welt verändert, muss die Schweiz als Ganzes keinen neuen «Masterplan» ausarbeiten. Vielmehr kann sie darauf vertrauen, dass sich Gemeinden und Kantone, die Unternehmen, aber eben auch die Bürgerinnen und Bürger jeweils an die neuen Verhältnisse anpassen – eine Flexibilität, die sich als grosser Vorteil erwiesen hat.
Sind die besten Zeiten vorbei?
Die Schweiz hat mit der direkten Demokratie, dem Föderalismus, der Konsenskultur oder dem liberalen Arbeitsmarkt Institutionen hervorgebracht, die sie laut dem Erfolgsautor Nassim Taleb einst zum antifragilsten Land der Welt machten. Die Schweiz scheint ihre eigenen Stärken aber zunehmend zu vernachlässigen. Bereits vor zehn Jahren mahnte deshalb Taleb, der das Konzept der Antifragilität bekannt gemacht hat: «Die Schweiz ist eines der erfolgreichsten Länder. Aber ich fürchte, die besten Zeiten sind vorbei.»
Tatsächlich zeigen sich Risse in manchen Bausteinen, die über Jahrzehnte das Fundament der Schweiz gebildet haben. Der Föderalismus wird von den Kantonen selbst untergraben – es macht sich eine Bittstellerhaltung gegenüber dem Bund breit. Und aus einem starken Verlangen nach Sicherheit werden Regulierungen entworfen, die den Spielraum von Menschen und Unternehmen mehr und mehr einschränken. Nur zu oft wird mittlerweile erwartet, dass der Staat es richtet, alles absichert und rettet.
Im Kern bedeutet all das weniger Antifragilität. Es gibt weniger lokale Störungen, weniger Experimente, weniger Wahlmöglichkeiten. Es droht damit eine Erstarrung, und letztlich fehlen dann genau jene Elemente, die dafür sorgen, dass Krisen Chancen bleiben. Denn Antifragilität ist nicht einfach ein Zustand, den man einmal erreicht und dann für immer hat. Sondern eine Fähigkeit, die es stets zu erneuern gilt. Und zwar als Land wie als Mensch.
Der Artikel erschien zuerst in der NZZ am Sonntag.
Kurzporträt Christoph Eisenring

Kurzporträt Patrick Leisibach

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