Wer hat die Definitionsmacht über die Schulen übernommen? Die Folgen sind verheerend. Carl Bossard fordert eine Wende.

Was in der Schule gelehrt und wie unterrichtet wird, bestimmt inzwischen ein kleiner Bildungszirkel: bürokratisch abgeschottet, akademisch abgehoben und weitgehend abgekoppelt von der Schulwirklichkeit.

Für die Lehrer, Schüler, Eltern sowie die Wirtschaft und Gesellschaft sind die Folgen verheerend.

Wer gefordert ist, was wirkt und wie die pädagogische Wende für die Schulen des 21. Jahrhunderts zu schaffen ist, zeigt Carl Bossard im aufrüttelnden Interview auf – scharfsinnig, sachverständig, schlüssig.


Sie leben in Stans im Kanton Nidwalden, just da, wo der grosse Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi 1798/1799 wirkte. Nicht nur wir leben, auch Pestalozzi lebte in einer bewegten Zeit. Was kann Pestalozzi aus Ihrer Sicht der heutigen Schule mit auf den Weg geben?

«Vieles im pädagogischen Alltag kann auf drei Punkte reduziert oder durch drei geteilt werden. Wir kennen es beispielweise vom pädagogischen Dreieck mit der Lehrperson, den jungen Menschen und den Lerninhalten her. Hier drin, in diesem Dreieck, vollziehen sich die kognitiven und sozialen Lernprozesse der jungen Menschen: eine Trias.

Johann Heinrich Pestalozzi hat es mit seinem pädagogischen Dreiklang Kopf – Herz – Hand vorgemacht. Er wusste, wie wichtig Bildung für junge Menschen ist und dass man alles zusammen entwickeln muss: die Gefühle im Herzen, den Scharfsinn im Kopf und die Geschicklichkeit der beweglichen Hand. Er hat es begriffen, hat es gelehrt, und oft ist er in der Praxis gescheitert. Aber versucht hat er es mit einer beseelten Leidenschaft. Darum hat er bei den Kindern gewirkt. Sein berührender «Stanser Brief» von 1799 legt beredtes Zeugnis ab.

Wichtig sind eben, wie es Pestalozzi gelehrt hat, die «drei grossen G»: Grundwissen, Grundfertigkeiten, Grundhaltungen. Eine pädagogisch-didaktische Trias, die gar nicht veralten kann, weil sie so etwas wie ein NON PLUS ULTRA darstellt.

Unsere Kinder müssen etwas wissen, sie müssen etwas können, und beides zusammen soll sie besser denken und handeln lassen.

Nur so, durch die Mikroprozesse des Lernens, entsteht das, was fundamental und in Zeiten von Fake News, KI und Chat-GPT geradezu unabdingbar ist: Bildung als «Unverführbarkeit». So hat es der deutsche Philosoph Hans Blumenberg formuliert. Das aber setze elementare Grundkompetenzen wie Lese- und Denkfähigkeit voraus. Sie sind das Ergebnis systematischen Lernens und kreativen Arbeitens. Das muss das Ziel der Schule sein.

Und noch etwas scheint mir ganz wichtig und aktuell. Pestalozzi hat als einer der ersten vom individuellen Lernen weggeführt und einen gemeinsamen Unterricht eingeführt. Bis dahin lernte jedes Kind irgendwie für sich und mit eigenen Hilfsmitteln. Das Miteinander-Lernen für eine gemeinsame Welt: etwas Revolutionäres! Heute lösen wir übers individualisierte Lernen die Klassengemeinschaft tendenziell wieder auf. Und wenn es nach der Bertelsmann-Stiftung und den IT-Konzernen geht, lernt in Zukunft jede Schülerin für sich, jeder Schüler allein, alle isoliert und mit digitalen Geräten in ihren eigenen Lernboxen. Die Klasse als Sozialraum existiert nicht mehr. Eine problematische Reform!»


Bildungspropheten und Bildungsrevolutionäre setzen heutzutage Bildung mit Reform gleich? Was meinen diese damit?

«Neu» muss es sein und innovativ. Fast alles, was etwas auf sich hält, wird als «neu» erklärt. Das bringt Beifall und Akzeptanz. Das «Neue» gilt vielen schon als das Bessere und dem «Alten» eo ipso Überlegene. Das versteht sich; niemand will als altbacken gelten. Die Pädagogik ist dafür besonders anfällig und mit ihr die Bildungspolitik – aus Sorge, nicht mehr zeitgemäss zu sein.

Vergessen gehen die anthropologischen Konstanten, ignoriert wird das, was immer gilt – weil wir Menschen sind.

Die menschliche Evolution ist eben nicht mit der technischen Innovation gleichzusetzen. Doch das geschieht. Und wo nicht mehr nachgedacht wird, da wird vorgedacht – mit neuen Begriffen und Slogans: «Neues Lernen» beispielsweise oder «Neue Lernkultur», auch «Neue Autorität».

Bei der Reformkaskade der vergangenen Jahre ging zudem vergessen, was der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger als das «Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen» bezeichnet hat. Ich nenne ein Beispiel: Wenn wir etwas ausdehnen, minimiert sich der Gegenvektor, das Üben: Über die frühen Fremdsprachen haben wir die Inhalte in der Primarschule ausgedehnt. Dafür reduziert und minimiert sich die Zeit fürs Festigen, fürs Automatisieren und Anwenden.

Wir können nicht beide Vektoren gleichzeitig maximieren: die Inhalte ausdehnen und zugleich auch das Üben erweitern. Das Gesetz der Gegenbuchung!

Wenn die Nacht länger wird, zieht sich der Tag zurück und wird kürzer. Das hat nichts mit Ideologie zu tun. Das ist schlichte Proportionenrechnung. Die Folgen zeigen sich in den sinkenden Lernleistungen wie dem verstehenden Lesen oder dem kohärenten Schreiben. Das Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen!»


Zum Gesetz der Gegenbuchung eine weitere Baustelle: Wie verändern und verlagern sich die Vektoren zwischen Familie und Schule, zwischen Erziehung und Unterricht? Mit welchen Konsequenzen für die Volksschule?

«Die Schule hat es heute schwerer als noch vor einigen Jahren. Sie hat viele ihrer stillen Verbündeten verloren – jene Gratiskräfte, die einst selbstverständlich mitwirkten: beispielsweise das Mitziehen der Eltern, ihr subsidiäres schulisches Wirken zu Hause. Früher standen Eltern tendenziell auf der Seite der Lehrerin, des Lehrers. Heute ist das oft anders – mit spürbaren Konsequenzen für den Schulalltag.

Manche Eltern räumen ihren Kindern alle Steine aus dem Weg. Nicht mehr jedes Kind hat darum das Recht, nicht verwöhnt zu werden. Doch Lernen ist anstrengend, verlangt Einsatz und Ausdauer. In diesem Sinne muss die Schule gegenhalten, manchmal sogar eine Gegenwelt aufbauen. Das gehörte schon immer zu ihrem Auftrag. Stark wird ein junger Mensch am Widerstand, nicht an Watte und Wolle.

Weil diese Kräfte aus dem Elternhaus schwächer werden, muss die Schule heute stärker gegenläufig wirken, Gegenkräfte aktivieren. Das ist anspruchsvoll. In seinem Erziehungsbuch plädiert der Dichter Jean Paul dafür, Kinder auch gegen den Zeitgeist zu erziehen, weil er ohnehin genug Wirkung entfalte. Kinder und Jugendliche brauchen eine Gegenkraft, einen Eigenhalt, eine Resistenz. Nur so erwerben sie jene Mündigkeit und Freiheit, die zu Recht gefordert wird – und jene Resilienz, von der heute so oft die Rede ist.

Es ist das Dialektische des schulischen Bildungsauftrags: Mit der Welt gehen, ihr aber zugleich widerstehen.»


Wo andere schulische Fehlentwicklungen zerreden, erhellen Sie Zusammenhänge mit wenigen Worten: «Die Lehrpläne wachsen – die Lernleistung sinkt». Was steckt dahinter?

«Wer sich ins Feld der Pädagogik begibt, setzt sich dialektischen Prozessen und damit Spannungsfeldern aus. Er ist immer eingespannt ins Widerstreitende von Idealität und Realität beispielsweise, von Theorie und Praxis.

Der Gegenbegriff zur Theorie ist meines Erachtens nicht die Praxis, sondern die Empirie, die reflektierte Praxis. Das ist die berufliche Erfahrung, die sogenannte Professionsempirie.

Darum habe ich – auch als Direktor der Kantonsschule Luzern oder als Gründungsrektor der PH Zug – immer selber unterrichtet. Ich wollte Theorie und Empirie im gelebten Schulalltag verbinden. Das legitimiert mich, Fehlentwicklungen zu benennen – auf der Basis des Wohlwollens gegenüber der Institution Schule, aber unerbittlich in der konkreten Sache.»

«Wir bilden uns nicht allein und selbstgesteuert:
Bildung kommt nicht von einem Coach oder Lernbegleiter.
Bildung kommt von einem engagierten Visavis, das mich inspiriert,
von einer Lehrerin, einem Lehrer.»

Dr. Carl Bossard, Pädagoge
Mit dem Lehrplan 21 werden Kinder auf ihr messbares Können reduziert: kleinteilig, kompetenzorientiert, intensiv. Was bedeutet das für das Kindsein? Wie gerne wären Sie heute Schüler?

«Das kann ich nicht sagen, weil ich nicht vergleichen kann. Ich weiss nur eines: Die Steuerungs- und Kontrolltendenzen im Bildungssystem bringen die Schulen unter Druck, ohne dass bessere Lernleistungen resultieren. Diese technokratische Sicht verkennt das Wesen des Unterrichts.

Und noch etwas spüren wir: Der Wissens- und Informationsgesellschaft droht die Bildung abhandenzukommen. Bildung hat es heute schwer. Gefragt sind Kompetenzen, beruflich kalkulierbar, ökonomisch einsetzbar, finanziell verwertbar. Das kalte Kalkül der Nützlichkeit dominiert und diktiert. Die Idee der betriebswirtschaftlichen Effizienz hat die Idee der Bildung verdrängt. Relevant ist sie als ökonomischer Faktor und «bilanzierbare Kennzahl des Humankapitals» – unter den Parametern des maximierten Gewinns. So scheint es, etwas pointiert formuliert.»


Wenn es nach dem Schweizer Schulleiter-Verband (VSLCH) geht, sind Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr Pädagogen, sondern nur noch Coachs und Lernbegleiter. Mit welchen Folgen?

«Von Hegel stammt die Kurzdefinition von Bildung, nämlich «Im Andern zu sich selbst kommen». Wir bilden uns nicht allein und selbstgesteuert. Wir brauchen ein vital präsentes Gegenüber, das uns zu uns selber führt und damit zum Denken als innerem Dialog zwischen mir und mir selbst. Das kommt nicht von einem Lernbegleiter oder Coach, der mir Arbeitspapiere zuteilt, das kommt von einem engagierten Visavis, das mich inspiriert, von einer Lehrerin, einem Lehrer. Autonom werde ich durch Emanzipation.»


«Noten sind in Not»: Gehören Schulnoten abgeschafft, wie von Thomas Minder vom Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH) oder von Dagmar Rösler, Präsidentin Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), gefordert? Worauf kommt es bei Noten an?

«Sind Noten (in der Primarschule) notwendig? Darüber zu reden ist nicht ganz einfach und auch heikel. Das Thema gleicht einem Minenfeld; es ist in der Tendenz negativ besetzt. Viele wollen sie abschaffen. Es gibt sicher die Not der Noten, doch sie haben auch ihren Wert. Als junger Lehrer war ich an einer Schule tätig, die das verbale Bewertungssystem praktiziert hat: die Lernleistungsbeurteilung mit Worten. Wie habe ich um einen gerechten «Beschrieb» gerungen. Stundenlang! – dies im Wissen: Worte können verletzen; Zahlen sind neutraler.

In einem wertschätzenden Umfeld, in einer fehlerfreundlichen Atmosphäre sind Noten, so habe ich es erlebt, nicht das Problem, sondern eine einfache und leicht verständliche Hilfe; die Note schafft Klarheit für eine aktuelle Lernleistung. Kinder wollen wissen, wo sie stehen. Mehr kann eine Note nicht.

Entscheidend ist das lernfördernde Feedback – im Sinne einer Artikulation der Differenz zwischen Sein und Sollen in Bezug auf die Sache, den Prozess und die Selbstregulation. Das gehört zwingend zur Note. Und genau das, Feedbacks zur Selbstregulation, wünschen sich die Lernenden am meisten. Doch sie erhalten es ganz selten. Die Forschung weist dies nach.»


Für viele ein Tabuthema: Gemäss Bundesamt für Statistik, die Zahlen stammen aus dem Erhebungszeitraum 2020-2022, weisen 55.9 Prozent der 7-14-jährigen schulpflichtigen Kinder einen Migrationshintergrund auf. Wie beeinflusst die Einwanderung in die Schweiz den Unterricht in der Volksschule?

«Das ist ein wenig erforschtes Feld. Ich kann darum nur unzureichend Auskunft erteilen. Eines wissen wir bestimmt: Die Sprache ist das Instrument des Denkens. Es darf nicht sein, dass zugezogene Kinder aus anderen Kulturen einer Klasse zugeteilt werden, ohne dass sie die deutsche Sprache verstehen. Das hilft diesen Kindern nicht, und das erschwert gleichzeitig den Unterricht zum Nachteil des Kollektivs.»


Sie erheben die Stimme für die Schülerinnen und Schüler: «Nicht die Schüler haben das Lesen verlernt – die Reformen haben es ihnen systematisch abgewöhnt.» Was meinen Sie damit?

«Das Üben hat – vor allem an den Pädagogischen Hochschulen – einen schalen Beigeschmack. Aus der Gedächtnisforschung aber wissen wir, dass Üben und Festigen das Zentrale, das Grundlegende des Lernens sind. Das gilt besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren, sagt die Forschung. Eben: Aufbauen mit dem Verstehen, dazu das Festigen übers Üben und Anwenden. Das haben wir vernachlässigt. Die Folgen kennen wir. Die empirischen Daten zeigen es überdeutlich.»

Auf der abschüssigen Bahn: Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler in der 9. Klasse 2000-2022. Bild: © Statista 2024: bearbeitet Carl Bossard («Bossardkurve»)


Nun scheint die grassierende Reformitis selbst die Reformer an den Abgrund zu führen: Im Herbst 2025 beklagen Pädagogische Hochschulen etwa in den TA-Medien den Leistungsabfall, den ihre Reformideen mitbewirkt haben – und fordern einen «Masterplan» für die Volksschule. Gehen Sie mit?

«Wir brauchen keinen neuen Masterplan, wie das ein Dozent der PH Zürich angesichts der nachlassenden Lernleistungen der Schulabgänger postuliert.

Wir brauchen eine pädagogische Wende, um eine wirklich gute «Schule für alle» zu schaffen â€“ klug geführt und mit effektiven Lernprozessen.

So findet die Schule wieder zu ihrem Kernauftrag, dem bildungswirksamen Lernen für alle. Das bewahrt uns davor, «sehenden Auges in ein schweres Problem hinein[zulaufen]», wie der gleiche Bildungswissenschaftler in apokalyptischen Worten warnt.

Die Pädagogischen Hochschulen beklagen plötzlich etwas, das sie mit ihren Reformen selber mit verursacht haben. Doch darüber schweigen sie. Das scheint mir unredlich.»


Wer hat die Macht im Bildungsboot Schweiz? Bei wem liegt de facto die Definitionsmacht für das, was gelehrt werden soll und wie unterrichtet werden muss?

«Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und vor allem wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutet eine Marginalisierung der Praxisempirie.»


Pädagogische Hochschulen wurden in der Schweiz erst ab Mitte der 1990er Jahre gegründet. Wie konnten die Pädagogischen Hochschulen in rund dreissig Jahren die Definitionsmacht über die Volksschule an sich reissen?

«Den Pädagogischen Hochschulen ist es gelungen, sich der Kontrolle durch die kantonalen Bildungsdirektionen zu entziehen. Sie führen so etwas wie ein Eigenleben. Dabei berufen sie sich auf Entscheide der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren der Schweiz EDK, oft abgekoppelt von der täglichen Kärrnerarbeit im pädagogischen Parterre. Das führt – wir haben es angetönt – zu einem Bedeutungsverlust der Praxis und der Empirie.»


Sie selbst bringen das Luhmann’sche Spiel der Subsysteme ins Spiel: Die Schule ist der Politik unterstellt. Wo liegt das Problem?

«Im Luhmann’schen Spiel der Subsysteme ist die Schule der Politik unterstellt. Sie muss steuern. In den vergangenen Jahren hat aber die Bildungsverwaltung über ihren forcierten und kräftigen Ausbau einen ungeahnten Einfluss erhalten. Es ist darum nicht immer klar, wer hier wen steuert. Offiziell wäre es die Bildungspolitik!»


Kann das Primat der Politik respektive der Bildungspolitik über die Schule hierzulande zurückgewonnen werden? Welche Hebel gibt es?

«Bei dieser Frage bin ich mit einer wegweisenden Antwort überfordert. Zu hoffen wäre es.»


Inwieweit wünschen Sie eine aktivere und agilere Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK)?

«Da bin ich mir nicht so sicher. Die Funktion der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) ist für mich zu wenig durchschaubar. Wenn ich sehe, wie lange es gedauert hat, bis die ernüchternden Ergebnisse der Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK 2023) an die Öffentlichkeit gekommen sind. Da war die beschönigende, ja euphemistische Kommunikation wichtiger als eine schnelle und schonungslose Resultattransparenz!

Ein zweites Beispiel. Wie wenig klar die EDK ist, zeigte sich im Spätherbst 2023. Publiziert wurden die PISA-Ergebnisse 2022. Das ehemalige Bildungsparadies Finnland war dabei in den Naturwissenschaften und im Lesen leicht vor der Schweiz platziert.

Der finnische Bildungsminister bezeichnete das Resultat seines Landes als «sehr besorgniserregend». Er kündigte Massnahmen an.

Bei uns bewertete die damalige Präsidentin der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, die Zürcher Regierungsrätin Silvia Steiner, die leicht schlechteren Resultate als «gut» bis «sehr gut». Sie betonte das Relativierende, verwies auf das noch schwächere Abschneiden vergleichbarer Länder wie Deutschland und tröstete sich damit. «Wir sind über dem OECD-Durchschnitt!» (sic!), frohlockte sie. Dabei wussten wir um den dramatischen Rückgang beim Leseverstehen. Geschehen ist nichts. So etwas untergräbt jede Glaubwürdigkeit dieser Institution.»


Verabschieden kantonale Regierungen und Parlamente jährliche, also wiederkehrende Globalkredite an Pädagogische Hochschulen, verbinden sie diese mit Leistungsaufträgen, meist in der Art wie die Schaffung einer Unterrichtsbefähigung von Lehrkräften. Wären diese Geldflüsse nicht mit konkreteren Leistungsaufträgen respektive Vorgaben für eine wirksame Schulpraxis zu verknüpfen. Denn wer zahlt, der befiehlt?

«Da gehe ich mit Ihnen einig. Wir haben zu wenig Transparenz. Es ginge auch um einen Pro-Kopf-Vergleich zwischen den Kosten der ehemaligen Lehrerinnen- und Lehrerseminare und der heutigen Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen. Nicht selten fällt das Wort, wir seien mit der heutigen akademisierten Lehrerbildung hinter die damaligen Seminare zurückgefallen.»


Lehrerinnen und Lehrer arbeiten im schulischen Maschinenraum, kämpfen an vorderster Front. Welche sind deren Hauptanliegen? Wie stark fliessen deren Erwartungen bottom-up ein – oder eben nicht ein?

«Die Wissenschaft spricht von der marginalisierten Professionsempirie. Konkretisiert an einem Beispiel: Praxiserfahrene Lehrpersonen haben nachdrücklich vor der Einführung zweier Fremdsprachen in der Primarschule und den hehren Versprechen dieser Innovation gewarnt.

Die Bildungspolitik und die Verwaltungsstäbe haben nicht auf sie gehört. Im Gegenteil. Die Praktiker wurden in die ewiggestrige Ecke versetzt.

Dabei wissen wir seit Jahren, dass beispielsweise das verstehende Lesen dramatisch abnimmt, ebenso das korrekte und kohärente Schreiben. Es fehlt die Zeit zum Üben. Genau darauf haben die warnenden Stimmen der Praxis verwiesen. Sie wurden – milde gesagt – belächelt. Kassandra lässt grüssen! Kein Bottom-up-Prozess. Leider.»


Mittlerweile hat sich eine ganze «Schulreformindustrie» mit lukrativen Geschäftsmodellen etabliert: Von den andauernden Strukturreformen profitieren Beratungsunternehmen mit Angeboten wie «Lernen neu denken», «kompetenzorientierte Lerndesigns» oder «postdigitale Pädagogik», um nur einige Beispiele zu nennen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

«Eine tragische Entwicklung. In und an der Bildung kann sehr viel Geld verdient werden. Private haben das längst entdeckt und drängen in die Schule. Ein lukratives Feld! Es sind oft die gleichen Leute, die Innovationen pushen und sich dann gleichzeitig als Berater anpreisen. Gegen teures Geld notabene.»


In der Schweiz werden Privatschulen stets populärer. Täuscht der Eindruck? Was bedeutet die Nachfrage nach Privatschulen für die hiesige Volksschule?

«Die Zahl der Privatschüler bleibt relativ stabil, bei rund fünf Prozent. Was dagegen zunimmt, ist die Zahl der privaten Lern- und Nachhilfeinstitute. Das erstaunt nicht.

Wir wissen, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Wenn sie diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Das müsste den Bildungsverantwortlichen zu denken geben.

Eine Google-Recherche zu den Stichworten Â«Nachhilfe, Gymi-Vorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein, sonst gäbe es diesen Markt nicht. Da wird die Schule ihrem Kernauftrag zu wenig gerecht.»


Am 17. Januar 2025 stand die Mädchensekundarschule St. Katharina in Wil SG vor dem höchsten Schweizer Gericht. Vor das Bundesgericht wurde die „Kathi“ von Politikern gezerrt, denen die erfolgreiche Schule, Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter ist eine Absolventin, zuwider ist: Ist die Identifikation der Schule mit dem Christentum problematisch, die private Trägerschaft des Teufels, die Geschlechtertrennung unzumutbar?

«Ein Entscheid, den ich nicht verstehen konnte, initiiert aus einer politischen Ecke, denen hohe Lernleistungen und seduzierter Unterricht per se verdächtig sind. Es sind die gleichen Kreise, die Selektionen nach der Primarschule vehement bekämpfen.»


Reformen beschränken sich nicht auf die Volksschule, sie haben auch die Berufsfachschulen ergriffen. In der neuen KV-Ausbildung werden keine Fächer wie «Rechnungswesen» oder «Buchhaltung» mehr unterrichtet. Der Unterricht findet in den „Handlungskompetenzbereichen“ (HKB) statt. Wie beurteilen Sie diesen Systemwechsel?

«Vor solchen Sammelfächern, wie sie der Lehrplan 21 gepusht hat und die nun auch in die KV-Reform durchdrücken, warnte der renommierte Entwicklungspsychologe und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof. Franz E. Weinert: «Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch», betonte er. Als Ausnahme nannte der Lernpsychologe Weinert den Projektunterricht; reale Phänomene oder Probleme unserer Welt bilden hier den Ausgangspunkt des Lernens.»


Den Sog des Gymnasiums spürt die Berufsbildung. Wie ist die Attraktivität der Berufslehre zu halten oder gar zu steigern?

«Erst in der Werkstatt habe ich das Denken gelernt.» Das sagt der Philosoph und gelernte Motorradmechaniker Matthew B. Crawford. Für ihn geht das Denken über die Hand. Die Hände, so Crawford, seien der äussere Verstand. Und erst das Greifen führe zum Begreifen. Genau das ermöglicht das Handwerkliche, ermöglicht die Berufslehre. Und noch etwas wissen wir: Zwischen Denken und Tun gibt es einen grossen Sinnzusammenhang. Auch darin liegt die Attraktivität einer Berufslehre.

Es müsste uns besser gelingen, den Wert der beruflichen Grundbildung aufzuzeigen und welche Möglichkeiten sie in unserem durchlässigen Bildungssystem beinhaltet – gemäss dem chancengerechten Grundsatz: Jeder Abschluss führt wiederum zu einem Anschluss.»


Wohin steuert das Gymnasium mit dem Reformprojekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität WEGM»? Ich frage Sie mit Ihrer Frage: «Humboldt oder McKinsey?»

«In aller Kürze nur eine einzige Bemerkung zu einem weiten Feld. Der «Rahmenlehrplan Gymnasiale Maturitätsschulen» spricht Bände. Er liest sich als Mischung aus einem Europarat-Dokument, dem Text eines globalen Bildungsakteurs und einem KI-generierten Bildungstext. Die Antwort ist leider einfach: Da dominiert McKinsey! Wilhelm von Humboldts Bildungsidee tritt in den Hintergrund. Für viele ist er ja schon längst tot.»


Weder andauernde Reformen noch starrer Stillstand dienen der Schule. Mit Blick auf die Weiterentwicklung: Welche Kriterien sollen künftige Reformprozesse angesichts des Primats der Politik und der Relevanz für die Schulpraxis beachten?

«Schule und Unterricht sind immer Kinder ihrer Zeit. Das lehrt die Geschichte. Und noch etwas zeigt uns der Blick zurück:

Die Schule hat einen Doppelauftrag. Sie muss zeitgemäss sein und gleichzeitig den Mut zu Konstanten aufbringen. Konkret: Sie bleibt im Wandel stets auch dem verpflichtet, was immer gilt und keinem Verfallsdatum unterliegt. Darin liegt das Widersprüchliche und darum Anspruchsvolle der Schule, das Dialektische: Sie muss sich ändern und gleichzeitig Zeitloses vermitteln wie humane Werte und kulturelle Grundfertigkeiten: das Herkömmliche wie das Fortschrittliche. Schule muss beides verbinden und beidem gerecht werden.

Und wie bereitet die Schule von heute die Kinder auf die Welt von morgen vor? Eine Welt, die einer bislang kaum gekannten Zivilisationsdynamik unterliegt und sich fleissig revolutioniert. Eines wird immer gefordert und wie ein Mantra postuliert: junge Menschen fit machen für flexible Zeiten, für die digitalisierte, von Künstlicher Intelligenz KI geprägte Zukunft, für eine Ära, in der man sich beruflich ständig verändert und neuen Aufgaben stellt. Zu den Galionsgestalten der Gegenwart gehört darum der flexible Mensch. Dieses Zauberwort, die Flexibilität, hat der amerikanische Soziologe Richard Sennet in einem luziden Buch beschrieben.»


«Doch wie wird man flexibel in einer Welt des permanenten Wandels? In einer Welt, in der kaum mehr etwas konstant und sicher ist.»

«Ein Ding richtig können sei mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was der Dichter und Denker Goethe sinngemäss forderte, müsste die Schule des 21. Jahrhunderts verlangen: klar in ihren Ansprüchen, bemüht um elementares Basiswissen und intensives Training dauernd gültiger Qualifikationen: verstehendes Lesen und kohärentes Schreiben, präzises Rechnen, logisches Denken und freies Fantasieren. Solche elementaren Grundkompetenzen sind das Ergebnis systematischen Lernens und kreativen Arbeitens, sind Resultat einer ganz unflexiblen Hingabe an die Basics. Nur so wird man flexibel!  Â«Get the fundamentals right, and the rest will follow.» Dem ist nichts beizufügen.»


SICHTWEISENSCHWEIZ.CH dankt Dr. Carl Bossard für dieses Interview.



Aufgefallen ist SICHTWEISENSCHWEIZ.CH, wie Carl Bossard in seinem Beruf literarische Bezüge kultiviert – etwa zu Peter Bichsel oder Lukas Bärfuss. Welche Erkenntnisse gewinnt Pädagoge Carl Bossard aus den Texten der beiden Schriftsteller für das pädagogische Kerngeschäft der heutigen Schule? Dazu folgen zwei inspirierende Lesestücke.


Carl Bossard: Peter Bichsel als Lehrer
Mit Blick auf die heutige Schule, insbesondere auf Lehrpläne und Lehrkräfte, schreibt Carl Bossard über Peter Bichsel:

«Ehemalige Schüler schwärmen noch heute von seinem Unterricht. Der Lehrer und Autor Peter Bichsel selber sagte: «Damals hatte man eine Schulstube, in der man schalten und walten konnte, wie man wollte. Der Lehrplan bestand aus zwanzig Seiten, und zwar für die gesamte Primarschule von der ersten bis zur sechsten Klasse. Inzwischen sind das richtige Wälzer.» – Bichsel und die pädagogische Freiheit!

Und er ergänzte: «Ich musste damals im Jahr genau zwei Formulare ausfüllen: eins mit der Liste aller Schüler, mit Geburtsdatum und Heimatort; dazu einen Jahresbericht von einer A4-Seite, wo man angab, was man in dem Schuljahr so gemacht hatte. Heute haben die Lehrer jeden Tag mindestens eine Stunde Büroarbeit. Daran wäre ich wohl gescheitert, nicht an den Schülern, aber an der Bürokratie.» – Bichsel und der pädagogische Papierkram!

Peter Bichsel hatte grosse Freiheit und kannte keine Kontrollbürokratie. Er konnte kreativ wirken. Einer seiner Schüler schreibt: «Ich bin überzeugt, dass ich nur dank Peter Bichsel später im Beruf erfolgreich war.»

Quellenangabe: Peter Bichsel: Was wäre, wenn? Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel. Zürich: Kampa Verlag 2018, S. 135

Literaturhinweis: Carl Bossard: Das Problem der Volksschule? Die Lehrpläne wachsen, die Lernleistungen sinken. NZZ am Sonntag vom 28. Juni 2025


Carl Bossard: Lukas Bärfuss als Schüler
In einem Interview mit der Stiftung Zukunft CH erhellt Carl Bossard, was Schriftsteller Lukas Bärfuss in seiner Schulzeit als Schüler für das Leben prägte: Lehrer, Liebe, Leidenschaft – und Gedichte.

Frage Zukunft CH: Vom Schriftsteller Lukas Bärfuss stammt der Satz: «Ich brauchte keinen Stundenplan, ich brauchte keinen Lehrplan. Was ich hingegen nötig hatte, das waren Lehrer.» Was zeichnet die pädagogische Grundhaltung eines guten Lehrers aus?

Antwort Carl Bossard: «Lukas Bärfuss zielt auf den Kern der Schule: gute Lehrerinnen, engagierte Lehrer. Ohne sie ist eine gute Schule nicht möglich. Freimütig bekennt Bärfuss: «Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, wenn meine Lehrer ihre Leidenschaften nicht mit mir geteilt hätten, ihre Begeisterung, ihr Unverständnis, aber auch ihren Ärger, die Angst und das Staunen.» Solche Lehrer führten Bärfuss zu Gedichten, sie führten ihn zu neuen Sichten, sie führten ihn in andere Welten. Sie begeisterten ihn für Dinge, die er gar nicht kannte, weil seine Neigung ihn nie dorthin geführt hätte. So beispielsweise ein «Stellvertreter in der siebten Klasse, ein Mann mit Bart, der uns Gedichte vorlas.» Nicht etwa, weil sie im Lehrplan standen. Er las uns Gedichte vor, weil er Gedichte liebte. Gedichte waren ihm wichtig, lebenswichtig. Und er teilte im Grunde auch keine Gedichte mit uns. Er teile seine Liebe, er teilte seine Leidenschaft.»

Frage Zukunft CH: Was wünschen Sie sich für die heutige Schul- und Bildungspolitik? Was für die Lehrer, was für die Schüler?

Antwort Carl Bossard: «In seiner „Ode an die Lehrer“ schreibt der Schriftsteller Lukas Bärfuss am Schluss:

Kinder brauchen Erwachsene
die ihnen zeigen
wie das gehen könnte
dieses Spiel
ein Mensch zu werden.

Dass möglichst alle Kinder und Jugendlichen dieses Glück haben, das wünsche ich mir.»

Literaturhinweis: Lukas Bärfuss: «Ode an die Lehrer», in: «Stil und Moral», Wallstein Verlag 2015.

Quellenangabe: Carl Bossard: Der Mensch ist mehr als nur ein Behälter von Kompetenzen. Stiftung Zukunft CH, 2. November 2024.


Kurzporträt Carl Bossard
Dr. phil. Carl Bossard war Rektor des kantonalen Gymnasiums Nidwalden in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Regelmässig publiziert er zu pädagogischen und bildungspolitischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Themen. Aktuell ist er tätig als Kursleiter, Referent, Schulberater und Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.


Weiterführende Literatur von und mit Carl Bossard

Es folgen einige wenige Hinweise zu ausgewählten Artikeln:

Carl Bossard: Alarm im Klassenzimmer: Leseschwäche in der Volksschule. Schweizer Monat, 27. November 2024

Carl Bossard: Der Unterricht muss sich auf das verstehende Lernen konzentrieren. NZZ, 24. November 2024

Carl Bossard: Lehrpersonen brauchen mehr Freiheiten. Condorcet, 24. August 2025

Carl Bossard: Wenn das Lernen sein Gewicht verliert. Journal 21, 25. Oktober 2025

Carl Bossard: Wer steuert eigentlich das Bildungsboot? Condorcet, 29. März 2024

Carl Bossard: Üben kommt in der öffentlichen Schule schmerzhaft zu kurz. Tages-Anzeiger, 30. August 2025

Carl Bossard: Zuerst gründlich reformieren, dann Alarm schlagen! Condorcet, 24. September 2025


Bildnachweis: Titelbild: Karin Hofer / NZZ. Peter Bichsel: Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Photopress. Lukas Bärfuss: Stefano de Marchi


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