Ein neues Betriebssystem für die Schweiz

Die Schweiz gilt als Inbegriff von Stabilität – institutionell, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Doch Stabilität ist nur dann ein Gewinn, wenn sie nicht in Trägheit umschlägt. In einer Welt, die sich rasant verändert, genügt es nicht, das Bestehende zu verwalten. Wer Freiheit, Wohlstand und sozialen Zusammenhalt sichern will, muss das Gemeinwesen immer wieder neu denken. Nicht durch punktuelle Reformen hier und dort, sondern durch eine grundlegendere Revision unseres gesellschaftlichen Betriebssystems.

Acht Prinzipien können dabei als Kompass dienen – nicht ideologisch, sondern pragmatisch, nicht von gestern, sondern von morgen gedacht.


1. Technologie verstehen – nicht nur regulieren

Die Schweiz hat eine lange Tradition der Techniknähe: vom Gotthardtunnel bis zu den Pionieren der Informatik. Heute hinkt der politische Diskurs den technologischen Entwicklungen allerdings hinterher. Gerade auf Feldern mit hoher Dynamik – wie künstlicher Intelligenz, Blockchain oder Biotechnologie – entsteht Innovation oft schneller, als regulatorische Systeme reagieren können. Umso wichtiger ist es, zuerst zu verstehen, bevor man gestaltet.

Wir brauchen eine neue Kultur der Technologiekompetenz – nicht nur bei IngenieurInnen, sondern in Verwaltung, Bildung und Politik. Wie wäre es zum Beispiel mit einer verbindlichen digitalen Grundbildung für alle Parlamentsmitglieder – so selbstverständlich wie das Amtsgelöbnis? Was wir nicht verstehen, können wir nicht gestalten. Und wer gestalten will, muss zuerst lernen.
 

Idee:

Ministerium für Zukunft

Ein staatlich verankertes Gremium, das keine Tagespolitik betreibt, sondern ausschliesslich auf die kommenden 30–50 Jahre blickt – etwa auf den Umgang mit KI, Altersvorsorge 2050 oder geopolitische Umbrüche. Zukunft braucht institutionelle Verankerung.


2. Verwaltung verschlanken, Staat digitalisieren

Die Schweizer Verwaltung funktioniert. Aber sie ist träge. Für viele BürgerInnen fühlt sich der Kontakt mit dem Staat noch immer an wie ein Behördengang im letzten Jahrhundert. Wer heute online ein Bankkonto eröffnet, sollte auch online eine Baugenehmigung beantragen oder digital Einsicht in Gerichtsakten erhalten können – medienbruchfrei, einfach, effizient.

Digitalisierung darf kein internes Effizienzprojekt bleiben. Sie muss erlebbarer Service sein – für Menschen, nicht nur für Akten.

Ein digitaler Staat ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Nicht nur um Kosten zu sparen, sondern um Vertrauen zu erhalten. Die Schweiz könnte zur Vorreiterin einer digitalisierten Demokratie werden, in der Sicherheit, Datenschutz und Bürgernähe nicht im Widerspruch stehen.

Idee:

Digitale Volksabstimmungen in Echtzeit

Blockchain-basierte Abstimmungen könnten BürgerInnen ermöglichen, häufiger, schneller und transparenter zu entscheiden – etwa bei lokalpolitischen oder gesellschaftlichen Fragen. Die Schweiz könnte zur digitalen Pionierin der direkten Demokratie werden.


3. Bildung für die Kreativgesellschaft

Die Schweiz ist arm an Rohstoffen, aber reich an Ideen. Doch das Bildungssystem ist heute noch zu stark auf klassische Wissensvermittlung fokussiert. In einer Welt der Automatisierung braucht es nicht nur Faktenwissen, sondern Kreativität, kritisches Denken, unternehmerischen Mut und Empathie.

Wir müssen unser Verständnis von Bildung erweitern: weniger Stoffdruck, mehr Freiräume. Weniger Paukerei, mehr Projektarbeit. Eine Matura, die auch kulturelle, digitale und soziale Intelligenz bewertet. Und Hochschulen, die gesellschaftliche Herausforderungen zum Ausgangspunkt von Lehre und Forschung machen.

Idee:

„Future Skills“-Lehrplan ab Mittelstufe

Ein schweizweit verbindlicher Lehrplanbereich für Kompetenzen wie Problemlösung, Kollaboration, Unternehmergeist oder Medienbildung. Auch Quereinsteiger:innen aus Praxis und Zivilgesellschaft unterrichten mit. Kurz: Schule als Labor fürs 21. Jahrhundert.


4. Globale Verantwortung statt nationale Reflexe

Neutralität ist ein Schweizer Wert – aber kein Freipass für Gleichgültigkeit. Die Schweiz profitiert wie kaum ein anderes Land von der globalen Ordnung. Als Profiteurin darf sie sich nicht hinter den Alpen verstecken, wenn diese Ordnung bedroht ist.

Globale Verantwortung heisst: Einsatz für Menschenrechte, faire Handelsbedingungen, Nachhaltigkeit. Aber auch: aktive Mitgestaltung in internationalen Gremien, Förderung von Diplomatie und globaler Innovationszusammenarbeit. Die Schweiz kann mehr sein als ein sicherer Hafen – sie kann Kompass und Katalysator sein.

Idee:

Schweizer Innovations-Hubs im globalen Süden

Die Schweiz lanciert Partnerschaften mit Städten, Startups und Hochschulen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Nicht als Entwicklungshilfe, sondern als gemeinsame Innovationsprojekte: z. B. Kreislaufwirtschaft, E-Government, Medizintechnik u.a.m. Kurz: globale Verantwortung durch Kooperation auf Augenhöhe.


5. Macht temporär denken – nicht als Besitzstand

Macht in der Schweiz ist dezentral, geteilt, befristet – ein Erfolgsmodell. Doch auch hier zeigen sich Erosionserscheinungen: Ämter werden abgesessen, Institutionen scheuen Experimente, die politische Kultur verhärtet sich.

Ideen:

PolitikerInnen auf Probezeit

Wie in der Privatwirtschaft: wer in den ersten zwölf Monaten liefert, bleibt. Wer nur verwaltet, wird ersetzt. Messbar wird das durch öffentlich einsehbare Leistungskennzahlen – erarbeitet im Dialog mit BürgerInnen und Fachgremien.

Parteiunabhängige KandidatInnen-Plattformen

Warum sollten politische Talente aus Wirtschaft, Kultur oder Bildung nicht direkt kandidieren können – unabhängig vom Parteiapparat? Eine Art „LinkedIn für Politik“ schafft neue Zugänge und echte Auswahl.

Demokratie-Innovationstage

Zweimal jährlich werden in jedem Kanton partizipative Formate durchgeführt: BürgerInnenjurys, Liquid-Democracy-Plattformen oder digitale Ideenwettbewerbe. Gewinnerideen fliessen direkt in die parlamentarische Beratung ein. Ziel: Demokratie als lernender Prozess.


6. Sozialen Zusammenhalt erneuern – nicht verwalten

Die Schweiz steht nicht nur vor technologischen, sondern auch vor sozialen Herausforderungen: demografischer Wandel, Urban-Rural-Gap, Vereinsamung, Polarisierung u.a.m. Die sozialen Institutionen sind stark – aber unter Druck.

Ein neues Betriebssystem braucht auch ein Update im Sozialen: Wie halten wir als Gesellschaft zusammen, wenn Lebensentwürfe sich immer stärker unterscheiden? Wie schaffen wir neue Formen der Solidarität – zwischen Alt und Jung, Stadt und Land, digital und analog?

Ideen:

Bürgerhaushalte per App

Ein Teil kommunaler Budgets wird zur freien Abstimmung gestellt: BürgerInnen entscheiden direkt per App über Spielplätze, Klimaprojekte oder soziale Initiativen. So wird Mitgestaltung konkret.

Zivilgesellschaftlicher Innovationsfonds

Bund und Kantone fördern mit öffentlicher Kofinanzierung neue gemeinnützige Projekte, die gezielt Brücken bauen: generationenübergreifendes Wohnen, hybride Dorfplätze, Integrationsformate mit Wirkungsmessung. Solidarität wird nicht verwaltet – sondern neu erfunden.


7. Ökologische Intelligenz verankern – nicht auslagern

Die Schweiz exportiert Nachhaltigkeitswerte – importiert aber zu viele Emissionen, Rohstoffe und Probleme. Klima- und Umweltpolitik wird oft delegiert: CO₂-Kompensation im Ausland, Recycling im Globalen Süden, Energieimporte aus nicht nachhaltigen Quellen.
 

Ein modernes Betriebssystem muss Ökologie höher gewichten – nicht nur als technisches, sondern als kulturelles Prinzip: Kreislaufwirtschaft, lokale Ressourcennutzung, naturbasierte Lösungen, Klima-Checks für Gesetze. Nicht als Bürde, sondern als Innovationschance.

Idee:

Klima-Bürgerbudget auf nationaler Ebene

Ein fixer Teil des Bundeshaushalts wird jährlich für ökologische Projekte bereitgestellt – die Bevölkerung entscheidet über die Verwendung: Biodiversität, nachhaltige Landwirtschaft, Energieeffizienz u.ä.m. Ziel: Demokratisierung der Nachhaltigkeit.


8. Kulturelle Vielfalt leben – nicht nur tolerieren

Die Schweiz ist kulturell vielfältig – historisch gewachsen und durch Migration geprägt. Doch Vielfalt wird oft verwaltet statt gelebt. Integration bleibt Verwaltungsakt, Partizipation oft nur Symbol.

Wir brauchen einen neu ausgehandelten gesellschaftlichen Grundvertrag – einen „Contrat social“, der nicht nur für Eingebürgerte gilt, sondern auch für alle, die hier leben. Er definiert die Leitplanken unseres Zusammenlebens: eine gemeinsame Sprache – je nach Region – als verbindliches Fundament, Grundrechte als unverhandelbare Basis.

Vielfalt als kreative Kraft: Das heisst, Minderheiten einbeziehen, interkulturelle Kompetenzen fördern, Teilhabe als Ressource nutzen. Nicht nur Repräsentation – echte Mitgestaltung.

Idee:

Nationale Plattform für interkulturelle Innovation

Eine digitale und analoge Plattform, auf der migrantische, sprachliche und regionale Initiativen Ideen austauschen, Projekte präsentieren und Fördermittel abrufen können. Vielfalt wird zum Innovationsmotor – nicht zum Integrationsproblem.


Gefragt ist ein neues Betriebssystem

Diese acht Prinzipien – ergänzt durch konkrete Ideen – sind kein starres Konzept, sondern ein Raum des Denkens und Gestaltens. Sie laden ein, die Schweiz nicht als fertige Ordnung zu sehen, sondern als lernende Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die Wandel nicht fürchtet, sondern reflektiert und verantwortungsvoll gestaltet.

Fazit: Wir brauchen keinen radikalen Bruch, sondern einen bewussten Aufbruch. Eine Evolution mit Substanz. Die Schweiz hat alles, was es dazu braucht – wenn sie jetzt den Mut aufbringt, nicht nur zu bewahren, sondern Zukunft zu gestalten.



Kurzporträt Tamás Kiss

Tamás Kiss, Konzepte, Texte, Ideen gibt alles für ausgewählte Prodjekte rund um die Welt und freut sich immer wieder, spannende Zeitgenossen kennzulernen.

Tamás Kiss, 1966 in Zürich als Sohn einer Schweizer Mutter und eines aus Ungarn geflüchteten Vaters geboren, hat schon früh viel Unerklärliches gesehen. Mit dreizehn musste er auf eine katholische Privatschule. Anschliessend ging er aufs Gymnasium und nach einem Zwischenjahr als Eisteeabfüller, Maurer-Handlanger und Sandwichmann folgte ein Studium der Jurisprudenz an der Uni Zürich. Weil er Streitereien nicht mag, wurde er aber nicht Anwalt oder Richter, sondern Werber. Als Texter und Creative Director in verschiedenen in- und ausländischen Werbeagenturen, irgendwann auch im eigenen Hot Shop, hat er sich in den letzten Jahrzehnten Fantastilliarden von Ideen aus den Rippen geschwitzt. 2009 erschien sein Debütroman «Früher im Licht». Heute treibt er das Bauen ohne Land voran und ist am glücklichsten, wenn er zusammen mit seinen Söhnen Messi beim Zaubern zusehen kann.

Bildnachweis: Aufmacherbild KI M365 Copilot New Operating System for Switzerland. Poträtbild Lukas Maeder.

One Response

  1. Im Prinzip kann ich dieser Einschätzung nur zustimmen. Der Zeithorizont scheint mir angesichts der aktuellen Entwicklungen jedoch sehr lang. Und hinter den «Demokratie»-Gedanken sehe ich endlose Diskussionen 🙂

    «Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.» Sir Winston Churchill (1874–1965)

    «»Democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried from time to time.»

    Winston Churchill war ein überzeugter Anhänger der Demokratie und äusserte sich oft dazu. Er betonte, dass die Demokratie zwar nicht perfekt sei, aber das beste politische System, um die Freiheit und Würde des Menschen zu schützen. Churchill sah in der Demokratie eine ständige Herausforderung, die jedoch durch die aktive Beteiligung der Bürger und die Bereitschaft zur Selbstkritik bewältigt werden kann.

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