In der Schweiz gründen jährlich über 40’000 Macherinnen und Macher ein Unternehmen. 83 Prozent von ihnen sind Einzelunternehmerinnen und Einzelunternehmer. Die wenigsten von ihnen zählen zu den Firmengründern von sogenannten «Start-ups», die in wachstumsträchtigen Wirtschaftsbereichen mit Millionenbeträgen von Investoren gefördert werden und dadurch medial am meisten Aufmerksamkeit erhalten.
Die meisten Firmengründer suchen eine sinnvollere Berufstätigkeit, wollen ihre Ideen verwirklichen, freier und flexibler arbeiten – und dabei erkannte Marktchancen nutzen. Sie gehen dafür hohe Risiken des Scheiterns ein, denn in der Schweiz sind 50 von 100 neu gegründeten Start-ups nach fünf Jahren vom Markt wieder verschwunden.
Norbert Winistörfer ist diplomierter Betriebsökonom und Journalist, seit 25 Jahren arbeitet er als Professor für Unternehmenskommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz – und er ist Autor des Schweizer Standardwerks für Unternehmensgründungen, das im Spätsommer 2025 bereits in 18. Auflage (!) erscheint.
Welche Sichtweisen hat Norbert Winistörfer, der Autor des Schweizer Standardwerks «Ich mache mich selbständig», zum Start-up-Land Schweiz?
Welche Gründe haben in der Vergangenheit zum Erfolg des Start-up-Lands Schweiz geführt?
Norbert Winistörfer: «Zur Beantwortung der Frage ist zuerst der Begriff «Start-up» zu definieren. Denn dieser ist mit einer besonderen Aura umgebenen und wird ganz unterschiedlich verwendet.
Für Risikokapitalgeber sind Start-ups neu gegründete Unternehmen mit einem Kapitalbedarf in ein- oder zweistelliger Millionenhöhe. Die meist forschungsgetriebenen Jungfirmen werden dabei dank ihrer innovativen Geschäftsideen in zukunftsträchtigen, wachstumsstarken Branchen wie der Tech-Industrie als reine Rendite-Objekte betrachtet. Sie sollen den Venture-Kapitalisten – etwas überhöht als Business-Angels bezeichnet – möglichst rasch einen hohen Return on Investment generieren. Andere Faktoren, wie die Schaffung von langfristigen Arbeitsplätzen für qualifizierte Fachleute, ethisch und ökologisch vorbildliches Handeln oder Fortschritt durch Technologievorsprung für die Schweiz sind eher Nebensache. Im Idealfall profitieren bei diesem Risikogeschäft alle Beteiligten, im schlechtesten Fall gibt es nur Verlierer.
«Wird dem Begriff «Start-up» der Glamour genommen,
Norbert Winistörfer, Buchautor «Ich mache mich selbständig»
verblasst dieser rasch. Übrig bleibt eine schlichte Firmengründung».
Zurzeit harzt das Start-up-Business in der Schweiz. In den letzten zwei Jahren gingen die Investitionen in Start-ups gemäss dem Swiss Venture Capital Report um 34,8 und 8,5 Prozent zurück. Erstmals sank auch die Zahl der Finanzierungsrunden um 10 Prozent. Die Start-ups haben zunehmend Mühe, Schweizer Investoren zu finden. Oft ist der hiesige Markt zu klein für die erhofften Gewinne.
Das zwingt Jungunternehmen zur Flucht ins Ausland – oder zur Geschäftsaufgabe.
Wirtschaftsmedien präsentieren Start-up-Gründende gerne als Stars in Helden-Geschichten. Dabei generieren besonders Frauen als Minderheit bei den Firmengründungen publizistisch mehr Aufmerksamkeit als der dominierende männliche Unternehmer. Das medial glorifizierende Hero-Storytelling führt leicht zu einem verzerrten Bild der überschaubaren schweizerischen Start-up-Szene. Denn sie hat wenig mit dem typischen Schweizer Unternehmertum zu tun, das von rund 620’000 KMU – das sind 99,7 Prozent aller Firmen in der Schweiz – dominiert wird. Vor zehn Jahren waren es erst 584’000 KMU, damals gab es aber auch 375’000 weniger Beschäftigte in der Schweiz.
Wird dem Begriff «Start-up» der Glamour genommen, verblasst dieser rasch. Übrig bleibt eine schlichte «Firmengründung». Im Idealfall erfolgt eine solche von intrinsisch motivierten Machern und Macherinnen, die sich dank ihrer einzigartigen Geschäftsidee im Markt etablieren und damit ein Einkommen zum Überleben generieren können. Zunehmend ist die Firmengründung für angestellte Arbeitskräfte aber eine Flucht aus einem sinnentleerten Job in engen hierarchischen Strukturen mit führungsschwachen Vorgesetzten, die Mitarbeitenden zu wenig Wertschätzung entgegenbringen. Auch für Arbeitslose ohne Wiedereinstiegschancen kann die Firmengründung eine Option sein, als letzter Weg zurück ins Arbeitsleben. Perspektivlosigkeit ist jedoch keine ideale Triebfeder – meist fehlt dann eine visionäre Geschäftsidee.

Die Schweizer Unternehmer-Szene boomt nicht. In den letzten zehn Jahren wurden gesamtschweizerisch zwar jährlich zwischen 39‘000 bis 47‘000 Unternehmen gegründet. Davon machen die oben beschriebenen High-Tech-Start-ups nur einen Bruchteil aus. Die meisten neuen Firmen entstehen in etablierten Branchen und herkömmlichen Geschäftsfeldern – und sind sehr klein. 83 Prozent der Neugründungen beschäftigen lediglich eine Person, 15 Prozent zwischen zwei und vier Personen. Diese sogenannten Mikrounternehmen (Unternehmenskategorie mit bis zu zehn Beschäftigten) machen 90 Prozent aller marktwirtschaftlichen Unternehmen in der Schweiz aus und bilden das Fundament und Rückgrat der Schweizer Wirtschaft.
Die Erfolgsbilanz der Neugründungen in der Schweiz ist relativ ernüchternd. Nach fünf Jahren ist die Hälfte der Firmen wieder verschwunden. Sie wurden aus dem Markt gedrängt, erwirtschafteten zu wenig Gewinn oder überforderten die Kräfte der Gründerinnen und Gründer. Die beschränkte Überlebensfähigkeit zeigt sich auch in den jährlich zunehmenden Firmenkonkursen. Je nach Statistik sind es schweizweit inzwischen über 15’000.»
«Kann man bei diesen Zahlen von einem erfolgreichen Start-up-Land sprechen, wie die gestellte Frage es erwarten lässt? Nein. Umso mehr Respekt verdienen all jene, die mit Blick auf Fakten ein Unternehmen gründen.»
Warum ist die Schweiz als Start-up-Land heute erfolgreich?
Norbert Winistörfer: «Wie schon in der Antwort zur ersten Frage ersichtlich, ist die Schweiz kritisch und nüchtern betrachtet kein Land, in dem das Unternehmertum ein blühendes Dasein fristet. Im Gegenteil: In den letzten zwanzig Jahren ist der prozentuale Anteil der Selbständigerwerbenden und der im Unternehmen mitarbeitenden Familienmitglieder in der Erwerbsbevölkerung leicht gesunken. Aktuell weist das Bundesamt für Statistik insgesamt noch 9,3 Prozent Selbständigerwerbende und 1,6 Prozent mitarbeitende Familienmitglieder aus. Der Trend zeigt weiter nach unten.
Auch im internationalen Vergleich weist die Schweiz keine überdurchschnittliche Rate an Selb-ständigerwerbenden auf. Wir erreichen nur EU-Durchschnittswerte.
Ganze 10 Prozent der Menschen in der Schweiz haben Lust, in den nächsten drei Jahren ein Unternehmen zu gründen.
Gemäss dem neusten Global Entrepreneurship Monitor GEM beabsichtigen dies in den USA rund 14 Prozent, in Frankreich 16 und in Kroatien fast 20 Prozent.
Die Gründe für diese verhaltene Bereitschaft zur Firmengründung sind vielfältig: Den meisten Arbeitnehmenden geht es in der Schweiz wirtschaftlich wohl (noch) zu gut. Sie sind nicht gezwungen, den risikoreichen Schritt in die Selbständigkeit mit höchst unsicherem Ausgang zu wagen. Ein regelmässiges fixes Salär aufs Lohnkonto scheint ihnen attraktiver als die ständige Ungewissheit, ob sich der gewünschte Lebensstil mit dem Ertrag aus der eigenen Firma langfristig problemlos finanzieren lässt. Beängstigend ist zudem für viele, dass sie als Selbständigerwerbende bei den Sozialversicherungen bisherige, geschätzte Arbeitnehmervorteile verlieren.
«700’000 geschäftstüchtige Firmeninhaber und -inhaberinnen bringen der Schweiz insgesamt mehr als ein gehyptes Unicorn.»
Norbert Winistörfer
Seien wir ehrlich: Wer will schon freiwillig als Selbständigerwerbender jährlich die statistisch ausgewiesenen 40 Prozent weniger verdienen als eine angestellte Führungskraft und dafür 25 Prozent mehr arbeiten, weniger Ferien beziehen und später in Pension gehen? Wer möchte sich ohne Zwang viele zusätzliche Sorgen im Leben aufbürden, an schlaflosen Nächten leiden und ständig an einem Burnout vorbeischrammen? Der Preis für all diese Nachteile als Unternehmer oder Unternehmerin muss sich lohnen, damit sich jemand aus der Komfortzone wagt und sich für diesen Schritt entscheidet.
Belohnt wird der Mut zur beruflichen Selbständigkeit in den meisten Fällen glücklicherweise mit wichtigen immateriellen Werten. Unter anderem in Form von gewonnenen Freiräumen, mehr Selbstbestimmung, der Verwirklichung von Lebensträumen. Wenn dazu noch die Aufwand-Ertragsrechnung stimmt, will kaum ein Selbständigerwerbender zurück in den Angestelltenstatus, wie Studien zeigen. Einigen erfolgreichen Unternehmern gelingt es gar, ihre jahrelange Aufbauarbeit oder ihr Lebenswerk zu vergolden, indem sie ihr Start-up oder ihre etablierte Firme einem Investor verkaufen können. Gemäss Umfragen sind aber in der Schweiz gegenwärtig über 100’000 Firmeninhaber vergeblich auf der Suche nach geeigneten Nachfolgern.
Um ein ausgeprägtes Start-up-Land zu sein, sind wir in der Schweiz mehrheitlich wohl zu wenig risikofreudig beziehungsweise zu sicherheitsorientiert. Was gar nicht schlecht ist, weil längst nicht jede Person eine Unternehmenspersönlichkeit ist.
Seien wir in unserem Microunternehmer-Land also stolz auf die zurzeit über 700’000 geschäftstüchtigen, hart arbeitenden Firmeninhaber und -inhaberinnen, die in meist umkämpften Märkten bewundernswerte Leistungen erbringen und einen entscheidenden Beitrag zu unserem Wohlstand leisten. Sie verdienen grössere Anerkennung als nur ein Schattendasein neben blendenden Start-ups. Sie bringen der Schweiz insgesamt mehr als ein gehyptes Unicorn (Start-up mit einem Marktwert von mindestens einer Milliarde US-Dollars), das sich möglicherweise nach unerwartet disruptiven Marktentwicklungen als Luftschloss entpuppt.
Was braucht es, was stimmt Sie zuversichtlich, dass die Schweiz auch in Zukunft als Start-up-Land erfolgreich sein wird?
Norbert Winistörfer: «Ein breit abgestütztes, an langfristigen Zielen orientiertes, solides und innovatives Unternehmertum ist die Basis einer prosperierenden Volkswirtschaft. Dieser Konsens besteht bei den entscheidenden Akteuren in der Schweizer Politik, Regierung und Verwaltung durchaus. Ihr Handeln entspricht aber oft nur ansatzweise ihren Lippenbekenntnissen. Sie sorgen mit neuen Gesetzen, Verordnungen und Auflagen für Überregulierungen. Und einen Administrationsaufwand, die Unternehmerinnen und Unternehmern verzweifeln lassen. 60 Prozent der KMU empfinden beispielsweise die administrative Belastung im Geschäftsalltag als zu hoch. Das liesse sich mit einem ausgeprägteren wirtschaftsorientierten Denken, noch liberaleren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie digitalisierten Prozessen verbessern.
In einem zu wirtschaftsunfreundlichen Umfeld nützen schliesslich auch die in den letzten Jahren entwickelten Beratungs- und Unterstützungsangebote der öffentlichen Hand und von Nonprofit-Organisationen wenig, um potenzielle Firmengründer für diesen Schritt zu motivieren und sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Ebenso verpuffen alle Anstrengungen der universitären Hochschulen und Fachhochschulen, die ihre Studierenden mit speziellen Studiengängen und Programmen, kompetitiven Wettbewerben und prestigeträchtigen Awards für das Unternehmertum zu begeistern versuchen.
«Einen alles umfassenden digitalen One-Stop-Shop für Firmengründende gibt es leider noch nicht.»
Norbert Winistörfer
Die Motivation zur Firmengründung wird in der Schweiz schon gedämpft durch den im internationalen Vergleich nach wie vor zu komplexen, langwierigen und kostspieligen Gründungsprozess. Die dafür entwickelten Online-Plattformen sind in den letzten Jahren zwar stetig ausgebaut worden. Einen alles umfassenden digitalen One-Stop-Shop für Firmengründende gibt es leider noch nicht.
Es bräuchte aber noch weitere Anreize für potenzielle Firmengründende, um das Unternehmertum in der Schweiz zu attraktivieren. Wünschenswert wäre etwa die schon öfters diskutierte Idee einer speziellen Arbeitslosenversicherung für Selbständigerwerbende – ein Auffangnetz, wie es für Arbeitnehmende gibt. Der kürzliche Bericht des Bundesrates auf ein entsprechendes Postulat ist klar ausgefallen: Unternehmer sollen mit ihrer Tätigkeit verbundene Risiken selbst tragen.
Start-up-Förderung, effiziente digitalisierte Gründungsprozesse und verbesserte soziale Absicherung allein lösen aber ein zentrales Problem von klassischen Start-ups noch nicht: erfolgreiche Neuunternehmen langfristig in der Schweiz zu behalten.
Heute werden viele Start-up-Perlen oft schon in frühen Entwicklungsstadien von kapitalkräftigen ausländischen Grossfirmen übernommen. Mit dem negativen Effekt, dass die Schweiz langfristig zu wenig von ihren Anstrengungen der Start-up-Förderung profitiert, weil das Kapital, neue Technologien, Arbeitsplätze, Steuersubstrat und das Know-how innovativer Fachkräfte ins Ausland abwandern.
Besonders bitter ist das bei Spin-Offs hochqualifizierter Studienabgänger weltweit renommierter Schweizer Elite-Hochschulen; schliesslich haben die Steuerzahlenden in der Schweiz den Unternehmenserfolg mit der Finanzierung der Ausbildungskosten mitermöglicht. Hier wären faire Regeln und Mechanismen notwendig, damit es am Schluss für alle direkt und indirekt Beteiligten zu einer Win-win-Situation kommt.
Um das Unternehmertum in der Schweizer Gesellschaft zu fördern, bräuchte es im Weiteren in verschiedenen Bereichen einen Kulturwandel. So ist es für Start-ups mit reiner Frauen-Power in der männlich dominierten Wirtschaftswelt nach wie vor schwieriger, an Kapital zu kommen, weil die Geschäftspartner offenbar zu wenig an ihre unternehmerischen Fähigkeit glauben. Eine unhaltbare und unwürdige Situation im Gender-Zeitalter.
Einen Kulturwandel braucht es in der Schweiz auch bezüglich des sozialen Status von Unternehmern und Unternehmerinnen. Denn wer in diesem Land mit seinen ambitionierten Geschäftsplänen (selbst wegen nicht beeinflussbaren Gründen) scheitert, der erntet vielfach nur Häme.
Für geschäftliche Misserfolge gibt es in unserer Gesellschaft keine Anerkennung für den aufgebrachten Mut, kein aufmunterndes Schulterklopfen, kein Wohlwollen und oder Unterstützung für einen Neustart.
Wer scheitert, ist als Versager abgestempelt. Dabei sind Firmengründer und -gründerinnen tatsächlich Helden und Heldinnen – nicht nur für auflagenfördernde Erfolgsgeschichten in den Schweizer Wirtschaftsmedien, sondern für unser Land.»
Kurzporträt Norbert Winistörfer

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Anne-Céline «Anci» Bordier gründete 2020 die Firma «HÄPP(L)IMACHER» (Bildnachweis)

«Nach schwerer Krankheit habe ich mich dazu entschlossen, mein Leben komplett auf den Kopf zu stellen und gründete HÄPP(L)IMACHER» sagt Anne-Céline, die zuvor vielfältige Erfahrungen sammelte: Erstausbildung zum Koch, Erfahrungen in der Gastronomie, Ausbildung zur Fleischverkäuferin, Chefmetzgerin bei der Migros, Abschluss an einer Handelsschule.

Aktualisiert 14. April 2025
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